Psychowissenschaftliche Grenzgebiete


 
Thema: Die große Begegnung (7)
       

Im NEBELLAND

Merkwürdigerweise hatte ich plötzlich das Gefühl, einen Körper zu besitzen. Ich erwachte mit meinem vollen Bewußtsein aus einem erinnerungslosen Tiefschlaf. Aber trotzdem kannte ich keine Schwerkraft mehr.

Von diesem Augenblick an, den ich hier beschreibe, handelte es sich nicht mehr um eine Person, wie sie auf Erden gelebt hat, sondern um einen GEISTIGEN MENSCHEN, der mit einer ganz anderen Wahrnehmungsmöglichkeit ausgestattet war. Alles war von jetzt an außerordentlich auf Gefühl eingestellt, so daß es eine Meisterleistung wäre, den jenseitigen Astralzustand auch nur annähernd mit Worten zu beschreiben. Ich muß daher weitgehend zu einer Bildersprache übergehen, da alle Jenseitigen in hohem Maße dieser bilderreichen Begriffsbildung befähigt sind. Sie können darum auch jeden anderssprachigen Jenseitsmenschen verstehen. Ich will nun versuchen, mit Hilfe meiner Phantasie, dieses Bild vom jenseitigen Dasein zu beschreiben: Darum besitzt die jenseitige Seele auch keine Zeit- oder Raumgefühle. Eine Stunde mag genauso viel gelten, wie Tage oder Wochen. Drei Tage tot sein, kann so viel bedeuten wie ein halbes Jahr und eine Sekunde kann zur Ewigkeit werden. Niemand vermag sich diese Zeitlosigkeit und Raumlosigkeit vorzustellen. Ungeheure Strecken können im Augenblick überwunden werden und ebenso vermag oft die größte Anstrengung nicht einen Meter zu überwinden. Dieser Nebel ist aber kein feuchter Nebel, sondern eher wie ein feiner Dunst, wie ein zarter Rauchschleier. Es handelt sich um eine Sinneswahrnehmung, die sich mit keinem Geruch auf Erden vergleichen läßt, denn es ist eher wie eine Mischung von Säuren und Blumenduft mit feinem Rauchwerk. Dieser Geruch ist eher ein merkwürdiges Gefühl, das aber durch die Nase erzeugt wird. Ich nenne ihn "Jenseitsgeruch" oder "Sphärengeruch".

Der aufmerksame Leser wird hier schon begreifen, wie schwer derartige Jenseitsbeschreibungen sind, wie sehr alles auf Gefühl abgestimmt ist. Der Seltenheit meiner Erlebnisse entsprechend, will ich mich nicht vor der Aufgabe drücken, meinen Mitmenschen einen Eindruck von der ANDEREN WELT zu vermitteln, so gut es eben geht.

In diesem Jenseitsdunst herrscht ein eigenartiges Schweben von dichteren Dunstschichten, die mehr oder minder einen matten Leuchtschimmer haben - so etwa, wie die matte Aura einer Lampe oder eher noch: als wenn das Vollmondlicht durch eine Wolke bricht, nur, daß es ein sehr unterschiedliches Leuchten ist.

In diesem Nebel herrschte aber gleichzeitig ein unverständliches Raunen menschlicher Stimmen, das ebenfalls fortlaufend Gefühle erzeugt, die mal sympathisch oder unsympathisch sind. Auch der Geruch bleibt nicht konstant, sondern wird bald stärker oder schwächer.

Der erste Augenblick in diesem Nebelland ist erschütternd, denn in meiner Unwissenheit hatte ich den Eindruck, daß es aus diesem endlosen Dunst kein Entkommen mehr gibt. Ich stellte mir deshalb die Frage, ob ich nicht doch die ewige Verdammnis auf mich genommen hatte? - Dann erinnerte ich mich an die Worte, die mein damals unsichtbarer FREUND zu mir gesagt hatte: "... DANN WERDE ICH BEI DIR SEIN UND DICH MIT LIEBE EMPFANGEN, IN DEINER ERSTEN VERLASSENHEIT UND DUNKELHEIT DEINER SEELE. ICH WERDE DICH ABER AN DAS GROSSE LICHT FÜHREN, DAMIT DU ERKENNST, WARUM GOTT SO VIELES GESCHEHEN LÄSST, DAS IHR NICHT BEGREIFEN KÖNNT. ABER DAS IST ALLES NUR ZU SEINEM NUTZEN." Ich strengte mein Sehvermögen an so sehr ich konnte, um meinen FREUND irgendwo zu erspähen. Aber außer den schleierhaften Gebilden, die in einer ähnlichen Nebelmasse so eigenartige Bewegungen ausführten, nahm ich kein menschliches Wesen wahr. Die Nebelbewegungen waren so ähnlich, als ob eine milchige Farbe auf einer trüben Glasscheibe verläuft, aber immer wieder in sich zusammenströmt. Heute weiß ich, daß es sich um einzelne Seelensysteme gehandelt hat.

Plötzlich wurde ich besonders hell angestrahlt.

Ich sah ein merkwürdiges Licht, d. h. ein Licht, das ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Trotzdem hatte ich eine dunkle Ahnung, daß ich eine ähnliche Lichtstrahlung schon vor vielen Jahren in einem Traum gesehen haben mußte. Diese Lichterscheinung hatte etwas Tröstliches für mich. Sofort hatte ich das Gefühl, nicht mehr allein zu sein.

Da formten sich meine Gedanken plötzlich mit außerordentlicher Kraft. Es war unmöglich, diese gewaltsame Gedankenarbeit zu unterdrücken, noch meine Gedanken auf etwas anderes zu konzentrieren. Trotzdem hatte ich die volle Fähigkeit, eigene Überlegungen blitzartig anzustellen. Ich erkannte sofort, daß meine Gedankentätigkeit viel intensiver war, als ich jemals dazu imstande gewesen bin. Es war ein Zustand äußerster Telepathie, verbunden mit einem starken Gefühlsleben und äußerster Aufmerksamkeit für jede Kleinigkeit. Meine eigene Gedankenstimme rief mir deutlich zu:

"ICH BIN DEIN SCHUTZGEIST! - HÖRE NUR AUF MICH UND AUF KEINE ANDERE STIMME. WIRST DU SIE ERKENNEN, ICH MEINE HERAUSHÖREN? ACHTE AUF DEIN GEFÜHL! ES WIRD DIR SAGEN, DASS ICH ES BIN." Ich war hilflos, wie ein neugeborenes Kind. Noch immer konnte ich mich nicht ganz von dem Gedanken freimachen, daß ich sehr stark halluzinierte.

Was war das eigentlich, das "Halluzinieren"?

War es ein Irresein? - War ich jetzt irrsinnig?

Da erkannte ich allmählich die Umrisse der lichten Erscheinung. Der FREMDE sah mich mit ernstem Gesichtsausdruck an. Es bewegten sich auch seine Lippen. Wenn er den Mund öffnete, sah ich sogar fehlerlose Zähne, doch sein Alter ließ sich unmöglich bestimmen. Der FREMDE sagte zu mir, das heißt ich verstand ihn auf jene telepathische Weise:

"ICH WEISS, WIE SCHWER FÜR DICH DER ANFANG IST. DOCH DU SOLLST NICHT FÜR IMMER HIER BLEIBEN, NICHT EINMAL FÜR LÄNGERE ZEIT. DU SOLLST NUR SCHAUEN, WIE DIE ANDERE WELT AUSSIEHT. ICH WERDE DIR MIT MEINER SUGGESTION BEISTEHEN, DENN HIER KOMMT ALLES NUR AUF DEN WILLEN AN." Ich versuchte zu sprechen und es gelang mir auch. Trotzdem konnte ich meine eigenen Worte nicht mehr hören, wie ich sie bisher gehört hatte. Sie hatten einen anderen Klang, einen inneren Klang:

"Ist dies das Jenseits?"

"JA, ES IST EIN TEIL DES JENSEITS. ES IST DIE ERSTE STUFE IM NEUEN LEBEN. VON HIER AUS GEHT ES AUFWÄRTS UND ABWÄRTS, JE NACHDEM. VIELE ABER BRAUCHEN SEHR VIEL ZEIT, UM AUS DIESER VORSTUFE ÜBERHAUPT HERAUSZUKOMMEN." Es war sehr merkwürdig, daß ich keine Erinnerung an meinen irdischen Körper hatte. Ich weiß erst heute, daß ich ihn damals vollkommen vergessen hatte. Vergessen, weil ich das Gefühl hatte, ihn noch zu besitzen! - Aber ich wußte, daß ich auf einmal wunderbare Eigenschaften hatte: Daß ich schwerelos war und ein viel ausgeprägteres Wahrnehmungsvermögen besaß.

Ich versuchte, mich fortzubewegen. Ich strengte meinen ganzen Willen an. Da entstand in mir ein seltsames Gefühl. Ich kann es nur mit dem Gefühl des Skilaufens vergleichen, aber ein noch zarteres und sanfteres Gleiten. Die Stimme des Fremden sagte zu mir:

"ICH HEISSE HIER „VERITAS“. LEIDER KANN ICH DIR NICHT ALLES ZEIGEN, WEIL DU NICHT DIE REIFE DAFÜR HAST. ABER IMMERHIN WIRD ES SCHON AUSREICHEN. ES IST AUCH NICHT GUT FÜR DICH UND VIELE ANDERE MENSCHEN, WENN SIE ALLES WÜSSTEN. AUSSERDEM WÜRDE MAN ES IM IRDISCHEN LEBEN NICHT GLAUBEN. DIE MENSCHEN KÖNNEN SICH EIN JENSEITS NUR AUF IHRE ART VORSTELLEN. DU SIEHST BEREITS, DASS ES EIN ZUSTAND IST. SO KOMMT MAN VON EINEM ZUSTAND IN DEN ANDEREN." "Gibt es eine Hölle?" wollte ich wissen, weil ich mich noch fürchtete.
"GEWISS, SIE IST AUCH EIN JÄMMERLICHER ZUSTAND."
"Ich meine, ob sie ein abgegrenztes Gebiet ist?" "ES SIND GEWALTIGE GEBIETE, SOGENANNTE TIEFE SPHÄREN, IN IHNEN HERRSCHT DUNKELHEIT. DIESE DUNKELHEIT IST ABER EIN SUGGESTIVER ZUSTAND." "Wer erteilt diese Suggestion ?"
"ES IST AUTOSUGGESTION."
"Das kann ich nicht verstehen. Wie kann man sich selbst einen so scheußlichen Zustand suggerieren?" "DAS IST SEHR SCHWER ERKLÄRBAR. ABER HIER HERRSCHEN SEHR STRENGE GESETZE. DIESE SEELEN KENNEN IHRE FEHLER. ABER SIE WISSEN NICHT, WIE SIE IHRE FEHLER WIEDERGUTMACHEN KÖNNEN. JE MEHR SIE VERSUCHEN, MIT IHREN ANSICHTEN ZURECHTZUKOMMEN, UM SO MEHR VERFALLEN SIE IN EINE DUNKELHEIT. ES LIEGT HAUPTSÄCHLICH DARAN, DASS SIE IHRE FEHLER VERTEIDIGEN UND ENTSCHULDIGEN WOLLEN. SIE VERTRETEN EINEN STANDPUNKT, DEN SIE SICH EIN GANZES LEBEN LANG ERWORBEN HABEN." "Wie sieht es denn mit mir aus ?" "KAUM BESSER, ABER DU BIST NOCH IN DER VORSTUFE, IM SOGENANNTEN „NEBELLAND“. ES KOMMT GANZ AUF DEINEN GUTEN WILLEN AN. ICH KENNE ZUM BEISPIEL ALLE DEINE SÜNDEN, JEDE EINZELNE. - WEISST DU SIE AUCH ?" Es war mir sehr unangenehm, diese Anspielung zu hören. Ich erinnerte mich blitzartig an verschiedene Sünden, aber ich wollte nicht daran denken und versuchte krampfhaft an etwas anderes zu denken. "ICH HABE ALLE DEINE GEDANKEN MITGEHÖRT“, sagte mein SCHUTZGEIST. „WIE DU ES ANFASST, WIRST DU NICHT WEIT KOMMEN. ICH RATE DIR DRINGEND, ALLE DEINE SÜNDEN ABZUWERFEN, SONST KANN ICH DIR KEIN ANDERES GEBIET, KEINE ANDERE SPHÄRE ZEIGEN." "Wie kann ich denn die Sünden abwerfen ?"
"WERFE SIE ALLE AUF CHRISTUS!"
Bei dieser Antwort erschrak ich sehr. Wie konnte ich zu der Last, die CHRISTUS zu tragen hat, noch meine Sünden hinzutun? Wollte mein SCHUTZGEIST mir eine geistige Falle stellen? - Ich hielt es für unmöglich, darüber nachzudenken. "SEI BITTE NICHT EIGENSINNIG“, mahnte der GEIST, der mich betreute. „DU MUSST DEINE SÜNDEN ABWERFEN, UND ES GIBT KEINE ANDERE MÖGLICHKEIT, DENN NIEMAND WILL DEINE SÜNDEN HABEN, UM SICH DAMIT SEIN DASEIN NOCH MEHR ZU ERSCHWEREN!" Mir wurde unheimlich. - An solche Möglichkeiten hatte ich noch nie in meinem Leben gedacht. Mir wurde aber klar, daß ich meine Sünden nicht loswerden konnte, weil sie allein in meiner Erinnerung hafteten, und da ich jetzt ein sehr scharfes Denkvermögen besaß, so erinnerte ich mich in dieser Weise an jede Kleinigkeit. - Ich überlegte fieberhaft, wie ich aus dieser belastenden Situation herauskommen konnte. " ...und vergib uns unsere Sünden, wie wir vergeben unseren Schuldigern..." Kann man die Sünden nicht vergeben? - GOTT kann die Sünden vergeben! "CHRISTUS IST ZUGLEICH STELLVERTRETER GOTTES. ER KANN DIR DIE SÜNDEN NEHMEN. INDEM ER SIE NIMMT, SIND SIE DIR VERGEBEN. ABER ES IST EIN EHERNES GESETZ IM WELTALL, DASS DAS, WAS EINMAL GESCHEHEN IST, NICHT MEHR AUSZULÖSCHEN IST. ICH GEBE DIR MEINEN LETZTEN WOHLGEMEINTEN RAT: MACHE DIR NACH UND NACH JEDE EINZELNE DEINER SÜNDEN BEWUSST UND BITTE CHRISTUS JEDESMAL VON GANZEM HERZEN, DIR DIESE SÜNDE ZU NEHMEN, INDEM ER SIE DIR VERGIBT." Ich war ratlos und ich schämte mich, wie ich mich noch nie geschämt hatte. Es war mir so, als ob ich CHRISTUS mit dem allergemeinsten Kot bewerfen sollte. Gleichzeitig erkannte ich die ganze Ungeheuerlichkeit, die darin bestand, daß alle Menschen an CHRISTUS das gleiche Verlangen stellten, und schlimmer noch, daß sie immer neue Sünden begehen, um diesen Unrat noch zu vermehren. Da ich mich so entsetzlich schämte, konnte ich dem Rat meines BEGLEITERS nicht nachkommen. Ich stellte mir geistig vor, daß ich bei meiner Sündenübergabe an CHRISTUS die größte Gemeinheit meines ganzen Daseins begehen müßte. "ES TUT MIR SEHR LEID UM DICH“, sagte VERITAS, „ABER DU BIST LEIDER SEHR EIGENSINNIG UND STOLZ. MIT DIESEN EIGENSCHAFTEN KANNST DU HIER NICHTS AUSRICHTEN. - DU HÖRST NOCH NICHT EINMAL AUF MEINE RATSCHLÄGE." Inzwischen hatte ich schon festgestellt, daß ich VERITAS nicht mehr erkennen konnte. Der Nebel um mich her nahm ständig zu, und es wurde gleichzeitig dunkel, wie bei einem heraufziehenden Gewitter.

Ich hatte Angst...

Noch einmal machte ich eine Gedankenanstrengung, um die Sache mit den Sünden klarzumachen:

Auf welche Weise sollte ich nun diese scheußliche Erinnerung loswerden? Selbst wenn CHRISTUS zu mir gesagt hätte: deine Sünden sind dir vergeben, so wäre damit nichts aus der Welt geschaffen. Es mußte also doch ein anderer großer und wichtiger Vorgang vonstatten gehen, um eine Sündenvergebung zu bewirken. VERITAS hatte gesagt, daß CHRISTUS die Sünden auf sich nehmen muß, damit sie vergeben sind. Ich kam mit dieser schwerwiegenden Angelegenheit nicht klar. In meiner seelischen Not rief ich nach meinem SCHUTZGEIST. VERITAS war nicht mehr zu sehen, aber ich vernahm seine Stimme: "FANGE MIT DEINEN SÜNDEN VON RÜCKWÄRTS AN UND BETE NACH JEDER SÜNDE. BITTE GOTT JEDES MAL UM VERZEIHUNG. DAS WIEDERHOLE SO LANGE, BIS DU BEI DEINEN KINDERJAHREN ANGEKOMMEN BIST. DIESE KINDERJAHRE INTERESSIEREN NICHT MEHR SO. ABER AM SCHLUSS BITTE CHRISTUS, ER MÖGE DIR DEINE SÜNDEN NEHMEN. WENN ER SIE AUF SICH NIMMT, WERDEN SIE DIR VERGEBEN SEIN." Obwohl ich tränenlos weinte, sah ich keine andere Möglichkeit.

Ich tat, wie VERITAS erklärt hatte.

Da ich aber nach jeder einzelnen Sünde beten mußte, so wurde ich mit dem Beten überhaupt nicht mehr fertig. Ich sah ein, daß ich tagelang damit zubringen mußte, wenn ich damit ganz zu Ende kommen wollte. Dabei fielen mir immer wieder neue Untaten ein - oder auch schlechte Gedanken, die ich dann und wann gehabt hatte. Es war schier ein aussichtsloses Bemühen...

Nach einer langen Zeit hörte ich VERITAS Stimme, die zu mir sagte:

"BITTE JETZT CHRISTUS, DASS ER DEINE SÜNDEN, DIE DU IHM ALLE AUFGEZÄHLT HAST, AUF SICH NEHMEN MÖGE, DAMIT DEINE SEELE RUHE DAVOR HABE." Ich hatte ein Gefühl, als ob das Universum untergehen müsse. Aber gleichzeitig erkannte ich hier eine ungeheure Klarheit, die meiner Meinung nach bestimmend ist für die ganze weitere Einstufung im Jenseits. Ich war jetzt vor die wichtigste Entscheidung gestellt: auf GOTT zu vertrauen oder nicht. Ich mußte CHRISTUS mit meiner Schuld bewerfen und an ihn glauben oder ich blieb sündig bis ins Innerste meiner Seele. Hatte ich von IHM Strafe zu erwarten oder nicht? – Eines wußte ich mit unglaublicher Sicherheit: Daß ich in SEINER Schuld war, weil ich ihn damit belastet hatte. Diese Schuld mußte aber irgendwie getilgt werden. Und wenn CHRISTUS mich in die Hölle schicken würde, um dort eine Seele aus den Klauen des Bösen zu retten, so wußte ich, daß ich damit nur einen Bruchteil meiner Schuld abtragen konnte. Jetzt wurde es wieder heller um mich her. Das gab mir neuen Auftrieb. Ich faßte mir ein Herz und bat CHRISTUS, mir meine Sünden zu nehmen. –

Von irgendwo glaubte ich die Worte zu hören:

"SIE SIND DIR VERGEBEN."
Gleich darauf schaltete sich VERITAS wieder ein. Er sagte fast befehlend:
"VERSUCHE, OB DU DICH AN DEINE SÜNDEN ERINNERN KANNST!"
Ich strengte sofort meinen Geist an. Soeben hatte ich mich noch an alle Sünden erinnern können. Aber so sehr ich in allen meinen Erinnerungen herumstöberte: ich konnte mich an kein einziges Unrecht mehr erinnern.
"HAST DU AUCH WIRKLICH GENAU NACHGEDACHT?“ forschte VERITAS mich aus.
Ich überlegte noch einmal, ob nicht doch irgend etwas wäre, das ich zu bereuen hätte. - Aber nichts - nichts. Ich war unschuldig wie ein Engel.

Jetzt wurde es zusehends hell um mich. VERITAS mußte jedoch einen bitteren Tropfen in meinen Seelenkelch gießen:

"DU BIST NATÜRLICH VON DEINEN SÜNDEN GEREINIGT. ABER NUR FÜR EINE GEWISSE DAUER. GLAUBE NICHT, DASS CHRISTUS DEINE SÜNDEN FÜR IMMER TRAGEN WIRD, DENN DU WIRST BALD INS IRDISCHE LEBEN ZURÜCK MÜSSEN, DANN ABER WIRST DU DEINE SÜNDEN WIEDERHABEN. DOCH DANN KANNST DU NOCH SEHR VIEL TUN, UM SIE VERGESSEN ZU MACHEN. - VOR ALLEM TUE KEINE NEUEN SÜNDEN HINZU. WENN DU NICHT GEREINIGT WORDEN WÄREST, SO HÄTTE ICH DICH NICHT WEITER FÜHREN KÖNNEN. DARUM SEI SEHR DANKBAR GEGEN DEINEN SCHÖPFER, DER DIR DIESEN BESUCH BEI IHM GESTATTET." Ich mußte an die Bibel denken. Die Propheten haben immer darin zum Ausdruck gebracht, daß sie etwas geschaut haben. So steht geschrieben: "Ich sah im Geiste" - oder: "Ich war im Geiste". - Es handelt sich immer um die Beschreibung von gewissen Visionen. Wie stark sind jedoch die Visionen, die sich nur im Jenseits auftun? VERITAS sprach von einem sehr suggestiven Dasein. Aber diese jenseitigen Suggestionen sind so stark, von solcher überwältigender Kraft, daß sie die Wahrnehmungen des irdischen Daseins weit übertrafen: sie sind noch realer, noch wirklicher.

Um dem Leser ein möglichst zutreffendes Bild davon zu geben, so mag er sich vorstellen, daß alles nochgreifbarer ist und daß vor allem die Farbenpracht und die Gerüche noch viel, viel intensiver sind als es im Erdenleben jemals möglich war. Ich möchte es vermeiden, hinter jeden Satz zu schreiben, daß es einen noch prächtigeren Eindruck macht oder daß das Licht oder die Farbe noch strahlender ist. Das ganze Jenseits ist, nach meiner persönlichen Erfahrung, ein gewaltiger Superlativ, eine höchste Daseinsform sinnlicher Wahrnehmungen. Ich bedaure sehr, daß ich durch die sprachliche Ausdrucksmöglichkeit beschränkt bin. Doch das Lichte ist im Jenseits noch lichter und das Dunkle ist dort noch dunkler. Die Freude ist noch freudiger und der Schmerz noch viel, viel schmerzhafter.

In der Ferne sah ich eine Sonne durch den Nebel strahlen. Aber es war eine weiße Sonne und so weiß sie auch war, ich konnte mit den Augen in ihr helles Licht sehen, ohne daß sie blendete oder daß meine Augen davon schmerzten. Ich denke heute, daß es ja auch meine geistigen Augen waren. Mich zog es wie eine Motte zu diesem hellen Licht hin. VERITAS blieb an meiner Seite. Er sagte zu mir:

"ICH WILL DIR EINEN NEUEN NAMEN GEBEN, DEN WIR HIER ALLE HABEN. ES GIBT SO VIELE SEELEN, DIE NICHT AN IHRE IRDISCHEN NAMEN ERINNERT WERDEN MÖCHTEN, DAMIT NICHT TRÜBE ERINNERUNGEN AUFTAUCHEN. DARUM HAT FAST JEDER VON UNS EINEN ALLEGORISCHEN NAMEN. DARUM NENNE ICH MICH VERITAS, WEIL MIR DIE WAHRHEIT LIEB IST. ICH SCHLAGE DIR DEN NAMEN „AREDOS“ VOR." Ich wußte zwar nicht, was "AREDOS" zu bedeuten hatte, aber ich wollte auch nicht widersprechen und hielt es auch für richtig. "Wohin führst du mich?" fragte ich VERITAS, "willst du mich an das GROSSE LICHT führen?" "NEIN, DAZU BIST DU NOCH NICHT REIF GENUG. ES WERDEN NOCH VIELE JAHRE VERGEHEN, BIS DU DAS GROSSE LICHT SEHEN KANNST." Ich konnte mir zwar unter dem GROSSEN LICHT nichts in einem bestimmten Sinne vorstellen, doch hatte ich das Empfinden, daß es eine Ausstrahlung haben mußte, die jede Seele bis ins Innerste erleuchtete.
"WIR KOMMEN ZUM „SOMMERLAND“, sagte VERITAS.
SOMMERLAND? - Ich hatte noch nie etwas von einem SOMMERLAND gehört. Aber nachdem ich soeben erst in einem NEBELLAND zugebracht hatte, so mußte das SOMMERLAND genau das Gegenteil davon sein. Ich spürte allmählich einen immer stärker werdenden herrlichen Blumenduft. Es müssen viele tausend frischer Rosen gewesen sein, die ihren Duft verbreiteten. Schon allein dieser unbeschreiblich würzige Duft verkündete mir, daß ich mich dem SOMMERLAND näherte und daß dieses Land oder diese Sphäre ein Märchenland aus "Tausend-und-einer-Nacht" sein mußte.