Für den Leser ausgesucht

- 46 - Dezember 1971 Für den Leser ausgesucht "Wenden Sie Ihre ganze Aufmerksamkeit so sehr Ihrer Arbeit zu, daß Ihnen keine Zeit übrig bleibt, Ungünstiges an andern zu entdecken oder Ihre Nase in deren Angelegenheiten zu stecken. Wenn sich doch jeder nur um seine eigenen Sachen kümmern würde, so gäbe es unendlich viel mehr Glück in der Welt. Dieses neugierige Hineinspähen in das, was uns gar nichts angeht, macht sehr viel böses Blut; und es stimmt ganz genau, wenn man von einer Person mit derartigen Neigungen sagt, sie sei krank. Ein Mensch, der immer wissen muß, wie es bei dem anderen aussieht, hat selten dabei die Absicht zu helfen, sondern will weiter nichts als seine Neugierde befriedigen und Bescheid wissen über etwas, das ihn absolut nichts angeht, was geradezu wie ein Krankheitssymptom wirkt. Eine zweite krankhafte Erscheinung besteht auch darin, daß ein solcher Mensch die auf so verwerfliche Art erlangte Mitteilung nicht für sich behalten kann, sondern nicht eher Ruhe findet, bis er sie an eine andere ebenso törichte und boshafte Person weitergetragen hat. Denn boshaft ist sie zweifellos, diese Klatschsucht, sogar so sehr, daß dem kaum etwas in der Welt gleich kommt. Unter hundert Malen ist das Gesagte neunundneunzig Mal erdichtet und richtet ungeheuren Schaden an. Diese krankhafte Ungezogenheit ist heute bei vielen Journalisten und Fernseh-Regisseuren zum Beruf gemacht worden. Sie versuchen überall einzudringen, um etwas zu erfahren, von dem sie gewöhnlich nichts verstehen. Doch wenn es für ihre Publikationen nicht interessant genug ist, so wird es entstellt, aufgebauscht oder durch infame Lügen interessant gemacht, ohne Rücksicht auf die interviewte Person."

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