Das Buch der Geister

- 49 - Betrachtungen über die Mehrheit der Daseinsformen Der Glaubenssatz von der Reinkarnation ist nicht neu, er ist durch Pythagoras in Erinnerung gebracht worden. Da der Spiritismus ein Naturgesetz ist, mußte er schon zu Anfang der Zeiten existieren, und wir bemühten uns stets, seine Spuren schon im höchsten Altertum nachzuweisen. Pythagoras ist nicht der Erfinder, sondern nur der Finder der Lehre von der Seelenwanderung, er schöpfte bei den indischen Philosophen und den alten Ägyptern, wo diese Lehre seit den unvordenklichsten Zeiten existierte. Die Idee der Seelenwanderung war somit ein Volksglaube, der von den hervorragendsten Männern aller Zeiten geteilt wurde. Woher kam ihnen nun dieser Glaube, durch Offenbarung oder unmittelbare Anschauung? Wir wissen es nicht, aber wie es auch sei, eine Idee zieht sich nicht durch alle Zeitalter, wird nicht von den erlesensten Geistern angenommen, wenn sie nicht eine ernste Seite hat. Das Alter dieser Lehre wäre somit eher ein Beweis für, als ein Einwand gegen dieselbe. Immerhin besteht jedoch zwischen der Seelenwanderung der Alten und der modernen Lehre von der Reinkarna- tion (Wiedereinverleibung) der große Unterschied, daß die Geister das Wandern der Menschenseele in Tiere auf das Bestimmteste ablehnen. Indem also die Geister den Glaubenssatz von der Mehrheit der leiblichen Existenzen lehren, erneuern sie eine Annahme frühester Zeiten, die sich bis in unsere Tage erhielt. Nur stellen sie diese Lehre unter einem den Naturgesetzen des Fortschritts entsprechenderen, mit der Weisheit des Schöpfers mehr in Einklang stehenden Gesichtspunkte dar, indem sie die Lehre aller Beiwerke des Aberglaubens entklei- den. Es ist auch bemerkenswert, daß sie dieselbe in neuester Zeit nicht in diesem Buche allein offen- barten. Schon vor seiner Veröffentlichung wurden in den verschiedensten Gegenden zahlreiche Mittei- lungen gleicher Art empfangen, die sich seither beträchtlich vermehrt haben. Untersuchen wir die Sache unter einem anderen Blickwinkel, abgesehen von allen Kundgebungen der Geister. Nehmen wir an, daß diese Theorie nicht die ihrige sei, ja, daß überhaupt nie von Geistern die Rede gewesen ist. Stellen wir uns auf ganz neutralen Boden, indem wir beiden Annahmen den gleichen Grad von Wahrscheinlichkeit zugestehen, der Einzahl und der Mehrzahl der leiblichen Existenzen. Und sehen wir dann, nach welcher Seite Vernunft und eigenes Interesse uns führt. Viele Leute verwerfen die Idee der Reinkarnation nur darum, weil sie ihnen nicht behagt. Sie sagen, sie hätten genug an einer einzigen Existenz und wünschen keine neue anzufangen. Wir kennen Menschen, die der bloße Gedanke, nochmals auf der Erde zu erscheinen, in Zorn versetzt. Wir fragen sie nur eines: ob sie glauben, daß Gott, um das All regieren zu können, sich nach ihrer Meinung und ihrem Geschmack richtet? Von zwei Dingen also eines: Die Reinkarnation existiert oder existiert nicht. Existiert sie, so mag sie ihnen widerstreben, sie werden sich schließlich doch zum Glauben bekennen müssen. Eines Tages werden sie sich neu inkarnieren, um leiblich neu zu leben, wenn Gott es will. Zu ihrer Beruhigung können wir diesen Gegnern aber sagen, daß die Reinkarnationslehre gar nicht so schrecklich ist, wie sie es meinen. Hätten sie dieselbe gründlich studiert, wären sie vor ihr nicht so entsetzt. Sie wüßten dann, daß der Zustand dieser neuen Existenz von ihnen selbst abhängt, sie wird eine glückliche oder unglückliche sein, je nach dem, wie sie ihr Leben gestalten. Sie können sich schon in diesem Leben so hoch erheben, daß sie keinen Rückfall in den Schlamm mehr zu fürch- ten haben. Wir setzen voraus, daß wir zu Leuten sprechen, die an irgendeine Zukunft nach dem Tode glauben und nicht zu Leuten, die sich das Nichts zur Aussicht wählen oder ihre Seele ohne Individualität in ein allgemeines Ganzes stürzen wollen, wie der Regentropfen in das Weltmeer fällt. Glaubt ihr also an irgendein künftiges Dasein, so werdet ihre gewiß nicht zugeben, daß es für alle Menschen das gleiche sei, denn wo wäre sonst der Nutzen des Guten? Warum sich dann Zwang antun, warum nicht alle Wünsche und Leidenschaften befriedigen, und sei es auf Kosten anderer? Du glaubst also, jene Zukunft werde mehr oder weniger glücklich oder unglücklich sein, je nach dem, was du im Leben tatest; wünschest dort also so glücklich als möglich zu sein für alle Ewigkeit. Oder solltest du etwa gar den Anspruch erheben, einer der vollkommensten Menschen zu sein und darum das vollste Recht auf die höchste Seligkeit der Auserwählten zu haben? Nein? Du gibst also zu, daß es noch bessere Menschen gibt als du es bist, die Anspruch auf einen besseren Platz haben als du, ohne daß du deswegen zu den Verdammten gehörst. So versetze dich einen Augenblick in Gedanken in diese Mittelstellung, die du dir selbst zugestehst, und denke, es komme jemand und sagte zu dir: du leidest,

RkJQdWJsaXNoZXIy MjI1MzY3