Das Buch der Geister

- 51 - entweder gleich oder ungleich, daran ist kein Zweifel. Sind sie gleich, woher dann jene so verschie- denen Fähigkeiten? Sollte das vom Organismus abhängen? Dies wäre eine ungeheuerliche Behaup- tung, denn dann wäre der Mensch nichts als eine Maschine, der Spielball des Stoffes. Er wäre für seine Handlungen nicht verantwortlich und könnte alles auf seine physischen Unvollkommenheiten abwäl- zen. Sind aber die Seelen ungleich, dann hat Gott sie so geschaffen. Warum dann aber dieser ange- borene Vorrang der einen vor der anderen? Nehmen wir demgegenüber eine Reihe von früheren fortschreitenden Existenzen an, ist alles erklärt. Die Menschen bringen bei ihrer Geburt die dunkle Ahnung dessen, was sie einst erworben, mit. Sie sind mehr oder weniger fortgeschritten, je nach der Zahl der durchlaufenen Existenzen. Gott konnte in seiner Gerechtigkeit nicht mehr oder weniger vollkommene Seelen schaffen, aber bei einer Vielheit von Existenzen hat die Ungleichheit um uns nichts, das dem Gerechtigkeitsgefühl widerspräche. Wir sehen nur das Gegenwärtige, nicht aber das Vergangene. Bei der sechsten Frage wird man ohne Zweifel antworten, die Wilden seien eine tieferstehende Rasse. Dann können wir aber fragen, ob sie überhaupt Menschen seien oder nicht. Sind es Menschen, warum hat dann Gott diese Rassen vom Vorrechte der Zivilisation ausgeschlossen? Sind es aber keine Men- schen, warum will man sie dann zu Christen machen? Die spiritistische Lehre ist weitherziger als alle anderen Lehren: Für sie gibt es nicht mehrere Menschengattungen, für sie gibt es nur Menschen, deren Geist mehr oder weniger entwickelt ist und empfänglich für den Fortschritt. Entspricht dies nicht viel mehr der göttlichen Gerechtigkeit? Wir sahen soeben die Seele in ihrer Vergangenheit und Gegenwart. Bei der Betrachtung ihrer Zukunft stoßen wir auf dieselben Schwierigkeiten: 1. Wenn unser jetziges Leben allein über unsere Zukunft entscheiden soll, welches wird dann im künftigen Leben die Stellung des Wilden und die des Zivilisierten sein? Stehen sie dort auf der gleichen Stufe, oder genießen sie die Summe ewiger Seligkeit in verschiedenem Grade? 2. Steht der Mensch, der sein Leben lang an seiner Besserung arbeitete, auf derselben Stufe wie der, der zurückblieb, nicht durch eigene Fehler, sondern weil er weder Zeit noch Möglich- keiten zur Besserung hatte? 3. Kann der Mensch, der Böses tat, weil er sich nicht vorwärts bilden konnte, für seinen Zustand verantwortlich sein, der nicht von ihm abhing? 4. Man arbeitet an der Besserung, Aufklärung und Zivilisation der Menschen, aber gegen einen, den man aufklärt, sterben täglich Unzählige, ehe das Licht zu ihnen drang. Was ist das Los dieser Menschen, werden sie als Verdammte behandelt? Und entgegengesetzt, was taten sie, um das gleiche Los zu verdienen wie die anderen? 5. Was ist das Los der im frühesten Alter gestorbenen Kinder, die noch nichts Gutes oder Böses tun konnten? Befinden sie sich unter den Auserwählten, woher dann diese Begünstigung, ohne sie je verdient zu haben? Gibt es überhaupt eine Lehre, die diese Fragen lösen kann? Nehmt aufeinanderfolgende Existenzen an, und alles erklärt sich nach Gottes Gerechtigkeit. Was man in einer Existenz nicht tun konnte, tut man in einer anderen. So entgeht niemand dem Gesetze des Fortschrittes, jeder wird nach seinem wirkli- chen Verdienst belohnt und keiner ist von der höchsten Seligkeit ausgeschlossen, auf die er Anspruch hat, gleich, welche Hindernisse ihm auf seinem Wege begegneten. Nun wird man sagen, die Reinkarnationslehre sei von der Kirche nicht zugelassen, sie würde zum Umsturz der Religion führen. Es ist nicht unsere Absicht, diese Frage zu behandeln, uns genügt gezeigt zu haben, daß die Reinkarnationslehre vollkommen moralisch und vernunftgemäß ist, somit einer Religion nicht widersprechen kann, die Gottes Güte und Weisheit verkündigt. Was wäre aus der Religion geworden, wenn sie gegen die allgemeine Ansicht und das Zeugnis der Wissenschaft behauptet hätte, daß die Sonne sich um die Erde bewegt und jeden ausgeschlossen hätte, der nicht an diese Behauptung und an die sechs Schöpfungstage glaubte? Als die Wahrheit unwider- sprechlich erwiesen war, stellte sich die Kirche wohlweislich auf die richtige Seite. Und wird nun bewiesen, daß wirklich existierende Dinge ohne die Reinkarnationslehre unmöglich sind, bleiben gewisse Punkte des Glaubens ohne sie unerklärt, wird man sie wohl zugeben und anerkennen müssen,

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