Das Buch der Geister

- 150 - Theoretische Übersicht über den Somnambulismus, Ekstase und das Zweite Gesicht Die Erscheinungen des natürlichen Somnambulismus entstehen von selbst und sind unabhängig von jeder bekannten äußeren Ursache. Bei einigen mit einer besonderen Organisation begabten Personen können dieselben jedoch künstlich durch magnetische Behandlung hervorgerufen werden. Der mit dem Namen "magnetischer Hochschlaf" bezeichnete Zustand unterscheidet sich vom natürlichen Somnambulismus nur dadurch, daß der eine von selbst entsteht, der andere aber hervorgebracht werden muß. Für den Spiritismus ist der Somnambulismus mehr als nur eine physiologische Tatsache. Er ist ein die Psychologie erhellendes Licht. Hier läßt sich die Seele studieren, denn hier zeigt sie sich nackt und bloß. Nun ist aber eine der sie charakterisierenden Erscheinungen ihr von den gewöhnlichen Gesichtsorganen unabhängiges Hellsehen. Wer diese Tatsache bestreitet, stützt sich meist darauf, daß der Somnambule nicht immer und so wie es der Experimentierende wünscht, wie mit den Augen sieht. Darf man sich aber wundern, daß die Wirkungen verschieden sind, wenn die Mittel dazu andere waren? Ist es vernunftgemäß, die gleichen Wirkungen zu verlangen, wo das Werkzeug nicht mehr vorhanden ist? Die Seele hat ihre Eigenschaften so gut wie das Auge, man muß also jedes von beiden mit dem ihm eigenen Maßstab messen. Die Ursache des Hellsehens des magnetischen und des natürlichen Somnambulen ist ein und dieselbe: Sie ist eine Eigenschaft der Seele, eine allen Teilen des in uns wohnenden unkörperlichen Wesens anhaftende Fähigkeit, die keine anderen Grenzen hat als die der Seele selbst gesetzten. Der Somnam- bule sieht überall hin, wohin er seine Seele versetzen kann, sei auch die Enfernung noch so groß. Beim Fernschauen nimmt der Somnambule die Dinge nicht von dem Punkte aus wahr, wo sich sein Leib befindet, sondern sieht sie gewissermaßen durch ein Fernrohr. Er sieht sie gegenwärtig, als ob er sich selbst an Ort und Stelle befände, weil seine Seele wirklich dort ist. Darum ist sein Leib völlig ausgeschaltet und scheinbar ohne Empfindung bis zu dem Zeitpunkt, wo die Seele wieder von ihm Besitz nimmt. Die teilweise Trennung von Seele und Leib ist ein ausnahmsweiser, anormaler Zustand, der kürzere oder längere Zeit, aber nicht ewig dauern kann. Sie ist Ursache einer vom Leibe nach einer gewissen Zeit empfundenen Ermüdung, besonders wenn die Seele eine angestrengte Arbeit verrichtet. Da das Schauen der Seele oder des Geistes nicht umschrieben ist und keinen bestimmten Sitz hat, erklärt es sich, daß die Somnambulen ihm auch kein bestimmtes Organ zuweisen. Sie schauen, weil sie schauen, ohne zu wissen, warum oder wie, da das Schauen für sie an keinen bestimmten Brenn- punkt gebunden ist. Wenn sie sich in ihren Leib zurückversetzen, scheint ihnen dieser Brennpunkt in dem Zentrum zu liegen, wo die Lebenstätigkeit gerade am stärksten entwickelt ist, besonders im Gehirn, in der Herzgrube, oder in dem Organ, das für sie der zäheste Verbindungspunkt zwischen Geist und Leib ist. Die Kraft des Hellsehens ist keine unbegrenzte. Selbst der ganz befreite Geist ist in seinen Fähigkeiten und Kenntnissen je nach dem Grade seiner Vervollkommnung begrenzt. Noch mehr ist er es, wenn er an den ihn beeinflussenden Stoff gebunden ist. Eben deshalb ist das Hellsehen weder allgemein verbreitet noch unfehlbar. Im Zustande des Freiseins, in dem sich der Geist des Somnambulen befindet, tritt jener in leichteren Verkehr mit anderen inkarnierten oder nicht inkarnierten Geistern. Dieser Verkehr gründet sich auf die Berührung der Fluide, die die Perisprits bilden und die ähnlich dem elektrischen Draht zur Übertra- gung des Gedankens dienen. Der Somnambule bedarf also nicht der Worte, er fühlt und ahnt die Gedanken. Dies macht ihn in hervorragender Weise für die Einflüsse der moralischen Atmosphäre eindrucksfähig und zugänglich, in die er sich versetzt sieht. Die Anwesenheit übelwollender oder antipathischer Personen wirkt auf ihn, wie die Berührung mit der Hand auf die Mimose wirkt. Der Hellsehende schaut gleichzeitig seinen eigenen Geist und seinen Leib. Beide sind ihm sozusagen zwei Wesen, die ihm das doppelte, also geistige und leibliche Dasein darstellen und doch wieder durch sie einigende Bande ineinanderfließen. Der Hellsehende gibt sich nicht immer Rechenschaft über diese Lage der Dinge, und durch diese Zwiefaltigkeit spricht er oft von sich selbst wie von einem anderen. Bald ist es nämlich das leibliche Wesen, das zum geistigen, bald das geistige, das zum leiblichen spricht.

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