Das Buch der Geister

- 150 - Der Geist erwirbt sich in jeder seiner leiblichen Existenzen einen Zuwachs an Kenntnissen und Erfahrungen. Während seiner Einverleibung in zu groben Stoff vergißt er dieselben zum Teil, aber er erinnert sich derselben als Geist. Daher kommt es, daß gewisse Hellsehende Kenntnisse verraten, die über ihre Bildungsstufe und selbst über ihre augenscheinlichen intellektuellen Fähigkeiten hinausrei- chen. Die niedere intellektuelle und Wissensstufe der Hellsehenden im wachen Zustande gestattet also keine Schlüsse auf die Kenntnisse, die er im Hochschlafe enthüllt. Da aber sein eigener Geist mehr oder weniger fortgeschritten sein kann, kann er auch mehr oder weniger richtige Gedanken aus- sprechen. Durch die Erscheinungen des natürlichen wie des magnetischen Somnambulismus gibt uns die Vor- sehung den unwidersprechlichen Beweis vom Dasein und der Unabhängigkeit der Seele und läßt uns dem erhebenden Schauspiel ihrer Befreiung beiwohnen. Damit öffnet sie uns das Buch unserer Bestimmung. Wenn der Hellsehende das sich in der Ferne Ereignende beschreibt, muß er es doch wohl sehen, und zwar nicht mit seinen leiblichen Augen: Er erblickt sich selbst dort und fühlt sich dorthin versetzt. Etwas von ihm befindet sich also dort und dieses Etwas kann, da es sein Leib nicht ist, doch nur seine Seele oder sein Geist sein. Die Ekstase ist der Zustand, in dem die Unabhängigkeit der Seele und des Leibes sich in deutlichster und sozusagen handgreiflichster Form äußert. Im Traum und im Somnambulismus wandert die Seele in den irdischen Regionen herum, in der Ekstase dringt sie in eine unbekannte Welt ein, in die Welt der ätherischen Geister, mit denen sie in Verkehr tritt, ohne jedoch gewisse Grenzen zu überschreiten, die den Tod ihres Körpers mit sich bringen würden. Ein ganz neuer, strahlender Glanz umflutet sie, auf Erden nie gehörte Harmonien entzücken sie, ein unbeschreibliches Wohlbehagen durchdringt sie. Sie genießt im voraus die himmlische Glückseligkeit und man kann sagen, sie setzt einen Fuß auf die Schwelle der Ewigkeit. Im ekstatischen Zustande ist die Ausschaltung des Leibes eine fast vollständige, er besitzt sozusagen nur noch das organische Leben und man fühlt, daß die Seele an diesem nur noch mit einem Faden hängt, den der nächste Ruck für immer zerreißen könnte. In diesem Zustande verschwinden alle irdischen Gedanken, um dem reinen Gefühl, dem innersten Wesen unseres nichtstofflichen Daseins, Raum zu geben. Ganz dieser hohen Betrachtung hingegeben, erblickt der Ekstatiker im Leben nur eine augenblickliche Rast, und das irdische Glück, das Übel, die groben Freuden und Leiden der Erde sind ihm nur geringfügige Zwischenfälle einer Reise, deren Ziel er beglückt voraussieht. Mit dem Ekstatiker verhält es sich wie mit dem Somnambulen: Das Hellsehen kann mehr oder weniger vollkommen sein, und ihr eigener Geist ist je nach seinem Fortschritt ebenfalls mehr oder weniger geeignet, die Dinge zu kennen und zu begreifen. Zuweilen findet sich bei ihnen mehr Auf- regung als eigentliches Hellsehen, oder richtiger, ihre Aufregung schadet ihrem Hellsehen. Darum sind ihre Enthüllungen oft ein Gemisch von Wahrheit und Irrtum, von erhabenen und ungereimten Dingen. Niedrige Geister benutzen oft diese Aufregung, um den Ekstatiker in ihre Gewalt zu bekom- men, und zu diesem Zwecke gaukeln sie ihm Trugbilder vor. Die Befreiung der Seele zeigt sich zuweilen auch im wachen Zustande und bringt die als Zweites Gesicht bekannte Erscheinung hervor. Sie verleiht den damit Begabten die Befähigung, über die Gren- zen unserer Sinne hinaus zu sehen, zu hören und zu fühlen. Sie nehmen abwesende Dinge überall dort wahr, wohin ihre Seele wandert, um zu wirken. Sie erblicken die Vorgänge gewissermaßen durch das gewöhnliche Gesicht hindurch und wie durch eine Art von Spiegelung. Zur Zeit, wo das Zweite Gesicht eintritt, ist der körperliche Zustand merklich verändert: Das Auge hat etwas Unbestimmtes, es schaut ohne zu sehen, und das ganze Gesicht spiegelt eine Art von Aufregung wider. Es wurde festgestellt, daß die Gesichtsorgane bei dem Schauen außer dem Spiel bleiben, da die Vision trotz Schließens der Augen fortdauert. Diese Fähigkeit erscheint denen, die sie besitzen, so natürlich wie das gewöhnliche Sehen. Sie ist ihnen Eigenschaft ihres Wesens und keine Ausnahme von der Regel. Auf dieses vorübergehende Hellsehen, dessen Erinnerung immer unbestimmter wird, um schließlich wie ein Traum zu verlöschen, folgt meist das völlige Vergessen. Die Kraft des Zweiten Gesichts wechselt von der wirren Empfindung bis zur klaren und deutlichen Wahrnehmung gegenwär- tiger oder abwesender Dinge und Vorgänge. In ihren ersten Ansätzen verleiht sie gewissen Menschen Scharfblick und eine Art von Sicherheit des Auftretens, was man etwa einen richtigen moralischen Blick nennen könnte. Weiter entwickelt, verleiht sie Vorahnungen, noch weiter entwickelt zeigt sie

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