Der Prozeß des Schlafens und der Prozeß des Todes sind verwandt

- 2 - Das Interview mit Geshe Tenzin Wangyal Rinpoche führte Dorothea Mihm (D. M.) D. M. : Rinpoche, was ist die Dzogchen-Sicht zu Sterben und Tod? Rinpoche : (lacht) Die ultimative Perspektive von Dzogchen ist: Es gibt keinen Tod. In relativer Hinsicht jedoch haben wir Menschen einen Körper, in dem unser Geist wohnt. Und da gibt es eine Trennung zwischen Geist und Körper, und das nennen wir Tod. In der tibetischen Tradition ist der gesamte Prozeß von Sterben und Tod und die Frage, wie man diesen Prozeß, insbesondere auch nach dem Tod, unterstützen kann, sehr wichtig. Viele Menschen leben ihr gesamtes spirituelles Leben nicht so sehr für dieses Leben, sondern der Sinn ihres spirituellen Lebens liegt in der Zeit nach ihrem Tod. Der Prozeß von Sterben und Tod, das Auflösen und die Transformation der Elemente, ist ein sehr tiefes Wissen im Dzogchen. Dieser Auflösungsprozeß der Elemente folgt der Sequenz Erde, Wasser, Feuer, Luft, Raum. Es geht darum zu lernen, das Bewußtsein in diesem Auflösungsprozeß vom Groben zum Feinstofflichen aufrechtzuerhalten. D. M. : Kannst Du die verschiedenen, sogenannten Bardos erklären? Rinpoche : Man spricht üblicherweise von vier Bardos: Dem Lebensbardo, dem Nahtodesbardo, dem Bardo des klaren Lichts und dem Bardo der Existenz. Bardo bedeutet Zwischenstand. Alle Zustände, in denen wir uns befinden, vom wachen Leben bis zum Tod, sind Zwischenzustände. (1) Das Bardo des Lebens dauert von der Geburt bis zur Todeskrankheit. (2) Der Zeitraum vom Beginn der Todeskrankheit bis zum Moment des Sterbens ist der Nahtodesbardo. (3) Nach dem Tod folgt der Bardo des klaren Lichts. Das ist zunächst ein leerer Zustand, aus dem heraus dann Visionen aufsteigen. (4) Wenn man anfängt Visionen zu haben, findet man in Beziehung zu diesen Visionen Identitäten. Diese Identitäten wiederum bereiten eine neue Geburt, ein neues Leben vor. Dies wird dann Zwischenzustand der Existenz genannt und ist der vierte Bardo. D. M. : Wird dieser Zustand auch der Bardo der Wiedergeburt genannt? Rinpoche : Ja, das ist dasselbe. D. M. : Im Westen richten 99 Prozent der Menschen den Fokus auf den Bardo des Lebens – im Gegensatz zu den Menschen des Ostens. Möchtest Du dazu etwas sagen? Rinpoche : Zunächst einmal gibt es im Osten einen starken Bezug zur Wiedergeburt, zum nächsten Leben. Deswegen haben die Menschen dort das Gefühl, gute Chancen zu haben, wirklich lange zu leben (lacht). Vielleicht ist es so, daß die Menschen im Westen denken: "Laßt uns dieses Leben leben, denn das ist alles." Also richten sie ihren Fokus auf dieses Leben. Ich denke, im Allgemeinen spielt im christlich dominierten Westen der Glaube an Wiedergeburt oder die Lehre vom Karma kaum eine Rolle. Das hat zur Folge, daß die Menschen sich auf die materiellen Dinge und auf dieses Leben konzentrieren. Und manche Menschen sind ja auch sehr erfolgreich in der materiellen Welt: Sie schaffen es, zum Mond zu fliegen usw. Das sind sehr machtvolle Weisen, die materielle Welt oder das

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