FREMDE bei den Vereinten Nationen

- 6 - 'Manche Menschen hängen an ihren alten Schuhen', schneuzte der Russe, 'sie verhalten sich dem Kommunismus gegenüber genauso, wie sie es gegenüber neuen Schuhen tun. Sie haben Angst, daß das neue System drücken könnte. Und es wird denen weh tun, die es bekämpfen. Sie werden auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen.' 'Ich kenne Ihre Vorliebe für russische Sprichwörter', erwiderte der FREMDE. 'Eines davon sagt, daß Abfall am besten an seinem Geruch erkannt werden kann.' 'Die Geschichte ist auf unserer Seite', rief der Russe. 'Die Macht ist auf unserer Seite!' 'Macht ist von jeher auf dem Marsch gewesen und das Recht ist von jeher niedergetreten worden', sagte der FREMDE. 'Aber die Zukunft erhebt sich immer wieder aus dem Staube. Denn Recht lebt fort in den Herzen und Gemütern der Menschen, nachdem Macht in den Gräbern beerdigt wurde, die sie selbst geschaffen hat.' Dann schaute er dem Russen durchbohrend in die Augen, bis der Stämmige begann zu schwitzen und unruhig zu werden. 'Was für einen Menschen falsch ist, es dem anderen anzutun, ist genauso falsch für eine Nation, es der anderen anzutun', erklärte der FREMDE. 'Die Taten einer Nation liegen jetzt auf Ihren Schultern. Sie können Ihr Gewissen nicht mehr auf Lenin oder Stalin abwälzen. Sie haben die Verantwortung auf sich selbst genommen. Lassen Sie mich Ihnen sagen: Es ist besser, Unrecht zu erdulden, als es zu verursachen, besser Schmerzen zu empfinden, als sie anderen zuzufügen.' Der FREMDE lächelte jenes liebreiche Lächeln. Der Russe schaute auf seine Uhr, machte ein finsteres Gesicht und taumelte fort, gefolgt von seinen Claqueuren. Der FREMDE schaute ihnen beim Fortgang wortlos nach. Dann schritt er langsam aus der Wandelhalle in den Meditationsraum, wo alle Personen, gleich welchen Glaubens, beten können. Sein Gesicht schien noch trauriger, seine Schultern waren gebeugt. Mit der einen Hand hielt er eine kleine abgegriffene Bibel umklammert. Der Wächter wartete draußen vor dem Meditationszimmer. Es vergingen mehrere Minuten und der FREMDE war noch nicht herausgekommen. Endlich öffnete der Aufseher die Tür einen Spalt breit und spähte hinein. Der Raum war leer! Der einzige Beweis dafür, daß der FREMDE dort gewesen war, war seine Bibel. Sie lag auf einem Stuhl und war geöffnet beim 10. Kapitel des Johannes. Der Wächter fühlte sich hingezogen und sein Blick fiel auf die Verse 14 - 16: 'Ich bin der gute Hirte und erkenne die Meinen - Und ich lasse mein Leben für die Schafe. Und ich habe n o c h a n d e r e Schafe, die sind nicht aus d i e s e m Stalle; und dieselben m u ß i c h h e r f ü h r e n und sie werden meine Stimme hören.' Zeichnerische Darstellung der Begegnung des FREMDEN mit Chruschtschow. Aus: "UN" Nr. 58, Juni 1961

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