Reinkarnation - eine urchristliche Lehre

- 61 - "die Ursache der Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit unter den einzelnen Geschöpfen von ihren eigenen Bewegungen herrührt, die teils lebhafter, teils träger sind, entsprechend ihrer Tugend und Schlechtigkeit, nicht aber aus ungleicher Behandlung durch den Ordner der Welt."112 Bestimmend für den Ort, an dem sich ein Vernunftwesen aufgrund seiner eigenen Bewegung befindet, ist der freie Wille des geschaffenen Wesens, den ihm der Schöpfer als größtes Geschenk unveräußerlich mitgegeben hat; dadurch war und ist es möglich, sich frei für oder gegen Gott zu entscheiden. "Denn der Schöpfer gewährte den Intelligenzen, die er schuf, willensbestimmte, freie Bewegungen, damit in ihnen eigenes Gut entstehe, da sie es mit ihrem eigenen Willen bewahrten. Doch Trägheit, Überdruß an der Mühe, das Gute zu bewahren, und Abwendung und Nachlässigkeit gegenüber dem Besseren gaben den Anstoß zur Entfernung vom Guten."113 Obwohl der vorliegende lateinische Rufinus-Text bei der Beschreibung über die Entstehung der Fallwelten eine größere Lücke aufweist, läßt sich der Gedankengang dieses verlorenen Abschnittes aus Hieronymus rekonstruieren: "Alle körperlosen und unsichtbaren vernünftigen Geschöpfe gleiten, wenn sie in Nachlässigkeit verfallen, allmählich auf niedere Stufen herab und nehmen Körper an je nach Art der Orte, zu denen sie herabsinken: z. B. erst aus Äther, dann aus Luft und wenn sie in die Nähe der Erde kommen, umgeben sie sich mit noch dichteren Körpern, um schließlich an menschliches Fleisch gefesselt zu werden . . .114 "Dabei wechselt er seinen Körper ebensooft, wie er seinen Wohnsitz beim Abstieg vom Himmel zur Erde wechselt."115 Unübersehbar geht aus dem bisher Gesagten hervor, daß laut Origenes die Seelen der Menschen schon vor der Entstehung dieser materiellen Welt vorhanden waren. Die Seelen sind also präexistent - eine fundamentale Voraussetzung für die Lehre von der Wiederver-körperung. Auch an anderen Stellen spricht sich Origenes für die Präexistenz der Seele aus: "Wie kann die Seele dessen mit dem Körper zusammen gebildet sein, 'der im Mutterleibe seinen Bruder zu Fall brachte' (Genesis 25, 22-26), nämlich Jakob? Oder wie kann die Seele dessen mit dem Körper zusammen gebildet sein, der noch 'im Mutterleib vom heiligen Geist erfüllt wurde'? Ich meine Johannes, der 'im Leibe seiner Mutter hüpfte' und von Jubel aufsprang, als der Gruß Mariens zum Ohr seiner Mutter Elisabeth drang (Lk. 1, 41, 44). Wie kann ferner die Seele dessen zusammen mit dem Körper gebildet sein, von dem es heißt, 'ehe er im Mutterleib gebildet ward, sei er Gott bekannt gewesen', und 'der, ehe er aus dem Schoße hervorging, von ihm geheiligt wurde' (Jeremias 1, 5)? Es darf nicht scheinen, als erfülle Gott irgendwelche Menschen mit dem heiligen Geist ohne Urteil und nicht nach ihrem Verdienst, und als heilige er sie ohne Verdienst. Wie würden wir dann demWort ausweichen können (Röm. 9, 14; 2, 11): 'Gibt es denn Ungerechtigkeit bei Gott?' und 'Gibt es ein Ansehen der Person vor Gott?' Das wäre nämlich die Folge einer Lehre, nach der die Seelen zusammen mit dem Körper ins Dasein treten."116 Antipater von Bostra schreibt in einer polemischen Anspielung auf Origenes: "Woher habt ihr die großen Geheimnisse, die ihr lehrt: wie die Intelligenzen vor dieser Zeit existierten, und wie sie sich zu bewegen begannen, und wie sie zu verschiedenen Ordnungen der Himmlischen und der Irdischen wurden?"117 112 Origenes, PA I, 8, 2 (S. 255) 113 Origenes, PA II, 9, 2 (S. 405) 114 Hieronymus, epistula 16 (PL 23, 384), zitiert nach Görgemanns-Karpp, a.a.O., S. 203 115 Hieronymus, epistula 19 (PL 23, 387), zitiert nach Görgemanns-Karpp, a.a.O., S. 205 116 Origenes, PA I, 7, 4 (S. 241) 117 zitiert nach Görgemanns-Karpp, a.a.O., S. 267

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