- 9 - Da keine einzige Aussage von Christus selbst zum Faktum der Erbsünde im kirchlichen Sinne vorliegt und man sogar weiß, daß "manche Äußerungen griechischer Väter, welche die Sünde sehr stark als persönliche Verschuldung hinstellen und von der Erbsünde ganz abzusehen scheinen" vorliegen, argumentiert man mit dem "unwiderlegbaren Realbeweis für die Überzeugung der alten Kirche von der Wirklichkeit der Erbsünde . . . (mit der) altchristlichen Praxis der Kindertaufe zur Vergebung der Sünden." (Ott S. 133) Demaskierend wirkt in dieser Beziehung folgende Passage: "Die natürliche Vernunft kann die Existenz der Erbsünde nicht stringent (= zwingend) beweisen, sondern nur mit Wahrscheinlichkeit aus gewissen Anzeichen erschließen: Solche Anzeichen sind die furchtbaren sittlichen Verirrungen der Menschheit und der Abfall vom wahren Gottesglauben (Polytheismus, Atheismus)." (Ott S. 133) Die Theologie bleibt also die Frage schuldig, warum Christus kein einziges Wort über die Erbsünde gesagt hat, obwohl er doch in diese Welt kam, "um zu suchen und zu retten, was verloren war" (Lk. 19, 10) "und um die Menschheit zu erlösen." (vergl. Isaias 35, 4) Zur Frage, wie die Erbsünde auf den Menschen übertragen wird, sagt das Dogma: "Wer behauptet, diese Sünde Adams, die in ihrem Ursprung eine einzige ist und durch Abstammung (d. h. Zeugung des Körpers, d. Verf.), nicht durch Nachahmung, übertragen, allen innewohnt und jedem einzelnen zu eigen ist, . . . der sei verflucht." (DS 1513) Diese Aussage bedeutet also, daß die Erbsünde durch den natürlichen Zeugungsakt, ebenso wie der menschliche Körper, fortgepflanzt wird. Obwohl die Sünde eine geistige Sache ist, wird sie über die physische Natur des gezeugten Kindes an dessen Seele weitergegeben: die körperliche Schaffung eines Menschen bewirkt demnach die Sündhaftigkeit der Seele, die laut dogmatischer Feststellung von Gott unmittelbar aus nichts geschaffen wird und daher selbst nicht eine Verfehlung begangen haben kann. "Bei jeder Zeugung wird die menschliche Natur im gnadenentblößten Zustand mitgeteilt." (Ott S. 136) Unbeirrt davon, daß selbst menschliche Rechtssatzungen derartige Handlungsweisen als ungerecht ansehen würden, lastet die Kirche eine solche Praxis Gott an, von dem sie in einem anderen Dogmensatz erklärt: "Die Welt wurde zur Verherrlichung Gottes geschaffen." (DS 3025). Darf man die Welt (als) das Werk göttlicher Weisheit (Psalm 104, 24), und die geschaffene Welt als die Realisierung göttlicher Ideen bezeichnen (vergl. Gen. 1, 26), wenn man den ewigen Schöpfer gleichzeitig eine Verhaltensweise unterstellt, die selbst dem vergleichsweise groben menschlichen Rechtsempfinden völlig widerspricht? - Kann Gott, der absolute Geist, etwas Geistiges, also die Seele, neu ins Leben rufen und sie dann dadurch sündig machen, daß sie an einen materiellen Körper gebunden wird, der ihr die Sünde überträgt? Stellt man mit einer solchen Denkart nicht den Körper über die Seele, das Materielle über das Geistige?
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