Zeilen aus dem Jenseits

Natürlich war Ullis Vater sehr überrascht, zumindest genauso wie ihre Mutter. Ulli ließ einfach nicht locker, sie wollte den „ungläubigen Thomas“ namens Vater zu einem neuen, einem anderen „Wissen“ bekehren. Nach und nach hat sich ihre Familie mit der Thematik der „Ahnen“ auseinandergesetzt. Daher blieb es nicht aus, dass auch Ullis verstorbener Großvater zum Gesprächsthema wurde. Der Mann, der Vater, das verhasste Familienmitglied, das seine Kinder, seine vier Söhne erbarmungslos im Stich gelassen hatte, als deren Mutter für immer verschwunden war. Der Mann, der sich also nie um seine Familie gekümmert hat. Alkoholprobleme, brutales Verhalten – es war bis dato viel geredet worden über Ullis Großvater Karl. Es gab sogar zum Zeitpunkt von Ullis Suche noch Lebenszeichen über ihre vermissten Familienangehörigen, noch ehemalige Nachbarn, die sich an viele negative Situationen erinnern konnten. Das geschah in der Zeit vor dem 2. Weltkrieg, in einer Zeit voll Angst und Hoffnungslosigkeit. Es war genau die Zeit, in der Paula ihren Kindern das Leben schenkte. Die Hetzjagd nach den „Nicht-Ariern“ war bereits voll im Gang. Und Paula war doch eine Roma-Zugehörige. Eine „Zigeunerin“, wie so manch einer sie bezeichnete. Gerade von diesen gab es sehr, sehr viele. Paula war damals noch durch ihren „arischen“ Ehemann geschützt, ebenso beide Kinder. Aber das sollte sich in relativ kurzer Zeit zum Negativen kehren. Für mich selbst war Ullis Familiengeschichte äußerst interessant, ja, sogar irgendwie faszinierend. Was mir jedoch überhaupt nicht gefiel war die Tatsache, dass über den Großvater von Seiten der noch lebenden Familienmitgliedern nur Negatives zu hören war. Hatte dieser Mann, Vater von vier Kindern, Paulas Ehemann, keinen einzigen positiven Charakterzug aufzuweisen? Das konnte und wollte ich nicht so einseitig zur Kenntnis nehmen. Sicherlich hatte er es nicht leicht mit einer blutjungen Roma-Ehefrau an seiner Seite als „arischer Christ“. Aber irgendwo sollte doch etwas Positives an dieser Verbindung zu finden sein. Ullis Großvater musste doch seine Paula geliebt haben. Ich spürte starken Ärger–die negativen Aussagen betreffend – in mir hochsteigen. Es gab doch weder Anhaltspunkte und nur noch schwache Erinnerungen der lebenden Söhne an den bereits verstorbenen Vater. Ulli war zu seinen Lebzeiten noch ein kleines Mädchen, ein Kind, als sie ihn ein einziges Mal kennenlernen durfte. Sie selbst kann sich nur an die heftige, überschäumende und ablehnende Reaktion ihrer Mutter erinnern. Ich bin eine Verfechterin des Wahrheitsgehaltes in derartigen Situationen. Ich mag es einfach nicht, wenn sich der „Angegriffene“ nicht mehr selbst wehren kann. Ullis Großvater war seit einigen Jahren tot–wie sollte er sich dagegen

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