Nur wenn du mir wirklich verzeihen kannst, kann ich jetzt ein neues Leben beginnen. Irgendwo, wo ich lerne, den Menschen nicht mehr so misstrauisch gegenüber zu sein und wo ich auch lieben kann. Dein Papa wird mich vielleicht begleiten, aber ich weiß nicht, ob das wirklich gut ist. Wir überlegen es noch und vielleicht nehmen wir den Fritzi auch noch mit. Wenn man sich gut kennt, kann es doch ganz gut gehen. Du weißt schon so viel – sollen wir das tun oder noch auf dich warten?Was meinst du? Der Papa will unbedingt auf dich warten. Du weißt ja, hier ist eine andere Zeiteinteilung und wir haben viel Zeit. Und der Fritzi ist so lieb und lustig – es ist schön hier. Bist du mir wirklich nicht mehr böse? Alles Liebe, deine Mama Ich lese Linda den Brief ihrer Mutter vor. Während dieser Tätigkeit gerate ich immer mehr ins Staunen. Da ist eine Mutter, die der Tochter unverblümt erklärt, sie wollte sie „nie haben“, weil nur ein Sohn wichtig für sie gewesen wäre. Ich frage mich unwillkürlich, was in der Beziehung Mutter-Tochter alles schiefgelaufen ist und bitte Linda um eine Erklärung. Es geht mir nicht gut bei dem Gedanken, diese Worte einer augenscheinlich gefühlskalten Mutter zu Papier gebracht zu haben. Linda nickt mir zu und beginnt zu erzählen: Ich hatte keine sehr glückliche Kindheit. Meine Mutter gab mir immer zu verstehen, dass ich ihr lästig war. Oh ja, sie hat alle ihre Mutterpflichten erfüllt. Ich hatte genug zu essen, saubere Wäsche und sie sorgte auch für eine ordentliche Erziehung. Wünsche durfte ich nie äußern. Sie meinte, sie wisse schon, was richtig und wichtig für mich wäre. Es war eine für mich sehr schwierige Jugend, denn nichts konnte ich ihr recht machen. Alles, was ich für sie getan habe war stets zu wenig. Sie kritisierte und nörgelte stets an mir herum. Ich habe für sie gesorgt, als sie alt und krank wurde. Doch auch da kam kein gutes Wort aus ihrem Mund, geschweige denn ein „Danke“ an mich von ihren Lippen. Sie ist im Jahre 1991 genauso kalt und lieblos gestorben, wie sie mir mein ganzes Leben lang gegenübergestanden war. Pflichterfüllung war für sie die einzige Selbstverständlichkeit ihres Lebens und genau diese hat sie von mir von
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