GROSSMUTTER – SO NIMM DENN MEINE HÄNDE … 13. Mai 1982. Ich stehe am offenen Grab meiner Großmutter. Mir ist schwindlig, mein Hals brennt. Das kommt sicher vom Schnaps, den man mir „fürsorglich“ eingeflößt hat. Rund um mich stehen alle diejenigen, die genau zu wissen glauben, wie sehr mich der plötzliche Tod meiner „Oma“ getroffen hat. Nun, sie glauben es zu wissen, weil sie, die Mitglieder meiner Familie, auch an meinem Leben teilgenommen haben. Mein Onkel steht neben mir und ich fühle, dass er sich Sorgen um mich macht. Auch er glaubt zu wissen, dass meine Gegenwart durch den Verlust meiner Großmutter einen gewaltigen „Schlag“ erhalten hat: Großmutter wurde sehr alt, ich bin gerade 35 Jahre geworden. Schließlich haben sie ein halbes Menschenleben miteinander verbracht, die Sissy und ihre Oma. Der Priester spricht den obligaten Segen, respektvoll treten die Trauernden zur Seite. Ich höre in mir Großmutters Lieblingslied: So nimm denn meine Hände und führe mich…Nein, es erklingt auch außerhalb von mir, so, als ob fremde Stimmen es mit mir anstimmen wollen. Ich bin zu verwirrt, um den Sinn darin zu erkennen. In mir steigt jedoch der unwiderstehliche Drang hoch, an Omas Grab, an Omas Sarg genau dieses Lied aus vollster Kehle mitzusingen. Sozusagen als letzten Liebesdienst der hinterbleibenden Enkelin für die Heimgegangene. ICH TRAU MICH NICHT! ICH SCHÄME MICH VOR ALL DEN ANDEREN! ICH BIN SO FROH, DASS ENDLICH ALLES VORBEI IST! Ich singe nicht, auch wenn die Töne rund um mich immer lauter werden. Der Priester spricht immer noch, es ist ein katholisches Begräbnis. Ich bin evangelisch-lutherisch erzogen und fühle mich fremd in der Religion meiner Großmutter, obwohl sie mir als Kind sehr vertraut war. Als ich noch ein kleines Mädchen war, sind wir oft in ihre Kirche gegangen. Oma hat „ihrer Maria, ihrer Gottesmutter“ alle Sorgen anvertraut und um Lösungen gebetet. Jetzt ist sie alle Probleme los, jetzt sind alle Nöte beendet – der Tod hat auch etwas Gutes! Der Priester hat seine Rede beendet, der Sarg wird hinabgelassen. Mit ihm geht ein Großteil meiner Erinnerungen mit, das weiß ich ganz genau. Mir ist immer noch
RkJQdWJsaXNoZXIy MjI1MzY3