Zeilen aus dem Jenseits

schwindlig, ich fühle mich wie benebelt, die Gedanken drehen sich in meinem Kopf. Die Klänge des Liedes umhüllen mich … So nimm denn meine Hände und führe mich …Außer mir scheint sie niemand zu hören. Ich spüre den Wunsch in mir, einer von den Anwesenden würde dieses Lied anstimmen, das Lieblingslied meiner Großmutter. Wissen sie denn nicht, dass das einer ihrer Wünsche war, als sie noch unter uns weilte, als sie noch am Leben war? Ihr Wunsch geht nicht in Erfüllung, auch nicht an ihrem Grab. Und ich …ich trau mich einfach nicht. Mein Onkel nimmt mich vorsichtig am Arm. Er führt mich weg vom offenen Grab. Ich bin ihm unendlich dankbar dafür, ich habe ihn sehr gerne, meinen Lieblingsonkel, er ist gut zu mir. Ich lasse mich von ihm wegführen. Was er, mein Onkel, nicht weiß, was wohl keiner der Anwesenden weiß ist, dass ich meine Großmutter nicht geliebt habe. Dass ich froh bin, dass unsere Verbindung endlich ein Ende gefunden hat. Ein trauriges Ende, aber ein endgültiges. Dass in mir seit ihrem Todestag die Hoffnung lebt, endlich ein eigenes, MEIN EIGENES Leben leben zu dürfen, zu können! Meine Großmutter hat mich aufgezogen, sie war meine „stellvertretende Mutter“. Sie war sehr streng mit mir, sie war ein pflichtbewusster Mensch mit ebenso lieblosen, moralischen Anforderungen und wusste genau, was „gut“ für mich war, was „wichtig“ für mich war und was einmal „aus mir werden sollte“, nein, „musste“. Das waren ihre Voraussetzungen für mein Leben, und genau das waren die Fesseln, die Verpflichtungen und die Zwänge, die meine Kindheit und Jugend beeinflusst haben. Ich fühlte mich ungeliebt und in ein „seelisches Korsett“ eingezwängt. Während meiner Entwicklungsjahre war ich ein Rebell, eine kleine Rebellin zwar, aber mein Verhalten ihr gegenüber führte nur noch zu mehr Strafen, zu mehr Streitereien, zu größeren Eskalationen. Ihr Verhalten mir gegenüber war mit den ständigen Forderungen ausgefüllt, die einen „pflichtbewussten“ Menschen aus mir machen sollten. Von ihr gestellte Bedingungen ketteten mich an sie – es war eine für mich sehr belastete Kindheit, eine ebenso belastete Jugend und darauffolgenden belasteten Erinnerungen. Aber, sie war meine Großmutter, sie war mein Mutter-Ersatz, den hat man eben zu lieben, zu respektieren und …ihm zu gehorchen! Ich atme ganz vorsichtig auf, ein heller Schein legt sich über mein Denken. Der Tod ist immer ein Neubeginn. Ihr Tod ist für mich die Chance auf meinen

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