Zeilen aus dem Jenseits

wird sie auch nicht … ich will …“ Langsam schließt Elfriede die Augen, sie fühlt sich wie erschlagen und todmüde. Von irgendeinem „Wollen“ ist keine Rede mehr. Eine nebelartige Wolke hüllt ihre Gedanken ein, sie zerfließen förmlich im Nichts. Ein großer, bunter Blumenstrauß kommt noch von irgendwo auf sie zu, dann schläft sie endlich ein. Im Wohnzimmer steht der große, altmodische Lehnsessel und es ist, als ob er auf etwas Bestimmtes wartet. Am nächsten Tag geht Elfriede wie selbstverständlich zum Grab ihrer Eltern. Kauft selbstverständlich einen großen Blumenstrauß und zündet eine Kerze an. Mutter hat es so gewollt. Sie steht noch eine Weile vor dem Grab, dann geht sie. Sie geht so alleine, wie sie gekommen ist. Elfriedes Bruder war noch nicht da und er wird auch nicht kommen. Das macht ohnehin immer die große Schwester. Elfriede weiß das, sie liebt den „kleinen Bruder“ und würde alles für ihn tun. Er ist ihr Liebling, er war auch Mutters Liebling. „Wie das eben so ist mit den jüngeren Brüdern“ denkt sie sich, während sie den Friedhof verlässt. Ihr Kopf schmerzt immer noch, aber die bösartige Migräneattacke ist schon weg. Elfriede fühlt sich mit einem Mal wie erleichtert. Die Gedanken an ihren „kleinen“ Bruder zaubern ein liebevolles Lächeln auf ihr Gesicht. „Mein kleiner Bruder … schade, ich hatte nicht viel von ihm. Unsere gemeinsame Zeit war viel zu kurz.“ Mit einem Mal steigen Erinnerungen in Elfriedes Gedanken hoch. Elf Jahre alt war sie, als er geboren wurde. Damals fühlte sie sich mehr als „Ersatzmutter“ und nicht so sehr als Schwester. „Eigentlich war er ja mein Kind. Ich hatte ihn mir doch so sehr gewünscht. Außerdem hat er mich von Anfang an geliebt. Sein Babylachen war einfach bezaubernd.“ Elfriedes Augen beginnen zu leuchten. Sie sieht sich in Babybegleitung einen altmodischen Kinderwagen schieben. Hat sie damals auch schon ihrem Bruder die Windeln gewechselt? Keine Ahnung, man muss sich ja nicht alles merken. Und überhaupt, sie hatte ja auch durch die Schule schon so viel „um die Ohren“. Elfi musste ja (damals war sie noch die Elfi) eifrig lernen, die Drohungen der Mutter waren allgegenwärtig. Die Sorge um einen guten Arbeitsplatz stand stets im Raum. Elfi wollte allerdings nicht in ein Büro, sie wollte an ein Theater. Die Bühne hatte die Bretter, die Elfis Welt ausmachten. Aber das kam überhaupt nicht in Frage. Die Erfüllung ihres Traumes hatten ihr die Eltern beinahe fanatisch untersagt. Elfi musste weg von zu Hause und zwar endgültig – so bestimmte die Mutter. Also, wenn schon fort, dann aber weit, weit weg, so beschloss Elfi. Die Mutter musste schließlich auch mit vierzehn Jahren von zu Hause fort. Warum sollte es die Tochter besser

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