Zeilen aus dem Jenseits

entfliehen konnte. Oder sie war das Rotkäppchen, das den bösen Wolf besiegte. Ganz gleich – Elfi war die Elfenkönigin und tanzte selig über die Wiesen ihrer Traumlandschaft. Ein anderes kleines Mädchen hüpfte und tanzte an ihrer Seite mit – es gab somit zwei Märchenprinzessinnen. Und der geliebte Papa spielte mit … Elfriede schließt mit einem tiefen Seufzer die Schublade ihrer Erinnerungen und erhebt sich mit einer ruckartigen Bewegung: „Schluss mit all dem Unsinn, das Leben hat mich wieder und fordert seinen Tribut“. Das ist die echte Elfriede und ein neuer Tag beginnt! Elfriede sitzt vor mir in meinem Lehnsessel und erzählt mir in langen Sätzen ihre Lebensgeschichte. Eine jüngere gute Bekannte hat mich ihr empfohlen, da sie der Meinung war, ich könnte den Knoten eines derart verschlungenen Lebensinhaltes, bedingt durch mein Wissen, entwirren. Ich sehe mir Elfriede genau an, höre hinter jedes Wort und erkenne die Hilflosigkeit in ihrer Erzählung: Ihre Mutter ist seit einigen Jahren tot, Elfriede hat sehr große Probleme mit dem Alleinsein. Sie ist nicht verheiratet, hat keine Kinder, liebt jedoch ihre Eigenständigkeit. Aber seit der Pensionierung sehnt Elfriede ihre Mutter zurück. Ein Umstand, den ich jetzt erst begreifen lernen muss. Es ist Elfriedes Wunsch, sich mit der Mutter auszusprechen, denn sie weiß mit großer Sicherheit, dass sich der „Geist der Toten“ immer noch in der gemeinsamen Wohnung aufhält. Und sie spürt auch sehr deutlich, wie sehr sich genau dieses Wesen an ihrem Leben, am Leben der Tochter festhält. Eine unangenehme, eine geradezu unheimliche Situation, die da stattfindet. Das allerdings verstehe ich ganz genau. Hinter Elfriede hat sich bereits ein Schattenwesen breit gemacht. Ich habe das Gefühl, dieses Wesen umklammert die Erzählende und ist nicht bereit, auch nur den kleinsten Abstand einzuhalten. Elfriede merkt wohl an meinen Blicken, dass da bereits einiges geschieht. „Meine Mutter ist schon eingetroffen – ich spüre sie. Kannst du sie sehen?“ Ich nicke leicht mit dem Kopf, will aber darüber noch nicht meine Meinung abgeben. Schattenartige Seelenwesen sind mitunter nicht immer freundlich, daher will ich eine unangenehme Konfrontation unbedingt vermeiden. Elfriede soll weitererzählen, ich deute es ihr mit beiden Händen, während ich das Verhalten der Mutter genau beobachte. Es geht ein großer Zorn von ihr aus. Sie will mitreden, aber die Tochter wird sie nicht hören. „Natürlich nicht“, sind meine Gedanken für sie, „du bist tot und die Lebenden verstehen die Toten nicht, sie hören sie nicht. Du brauchst mich als Übersetzende, das wissen wir doch beide. Aber ich bestimme, wann das geschehen wird.“

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