Zeilen aus dem Jenseits

GERLINDE – VATERLIEBE AUS DEM JENSEITS Gerlinde sitzt vor mir. Sie ist nervös, ich sehe es an ihren Augen. Die meisten meiner Klienten sind nervös, wenn sie zum ersten Mal bei mir sind. Ich nehme mir viel Zeit, um Gerlindes Ängste zu mildern. Wie so manches Mal führe ich ein kurzes Gespräch über das, was sie durch mich erwarten würde. Gerlinde will den Kontakt mit ihrem Vater. Sie erzählt, dass er 1944 in Italien gefallen und dort auf einem Friedhof begraben ist. Er hat kein eigenes Grab, sein Körper ruht in einem Sammelgrab für gefallene Soldaten. Ihr Problem ist, dass dieser Friedhof aufgelassen wird und alle Gebeine verlegt werden. Dieses Wissen bedeutet großen Kummer für sie. Sie weiß eben nicht, ob auch ihr Vater mit auf dem neuen Platz bestattet wird. Meine Frage an sie, ob sie überhaupt weiß, was genau mit ihrem Vater geschehen ist, verneint sie. Sie war knapp eineinhalb Jahre alt, als er gefallen ist – sie hat praktisch keine Erinnerung an ihn. Alles, was für sie übriggeblieben ist, ist die große Sehnsucht nach der Vaterliebe. Die Mutter hatte nie über ihn gesprochen, sie hat auch nie wieder geheiratet. Zum Todeszeitpunkt des Vaters war ihre Mutter schwanger mit ihrem Bruder. Gerlindes Mutter ist eine alte, verbitterte und vom Schicksal enttäuschte Frau. Lieblos und streng hat sie die Tochter aufgezogen. „Ich musste zeitlebens für den Verlust des Familienerhalters büßen“, lautet Gerlindes Kommentar über die vergangenen Jahre. „Und wie ist es dir mit deinem Bruder ergangen?“ Auf diese Frage gibt Gerlinde keine Antwort, sie zuckt lediglich mit den Schultern. Augenscheinlich will sie mit mir nicht darüber sprechen. Nun ist es also soweit! Gerlindes Nervosität hat sich beruhigt. Ich frage sie nach dem Foto ihres Vaters. Sie kramt in ihrer Handtasche und reicht mir zögernd eine alte Fotografie. Es ist die einzige Erinnerung, die sie an ihn hat – ein gut aussehender, junger Soldat in Uniform und mit freundlichen Augen. Ich bin froh, denn dieser Mann strahlt Wärme aus. Ich begreife, warum Gerlinde immer noch Sehnsucht nach ihrem Vater hat, denn ich spüre sofort eine Verbindung, die zwischen den beiden besteht.

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