Zeilen aus dem Jenseits

„Fangen wir an, ihn zu finden“ sage ich zu Gerlinde. Und „mach die Augen zu und denke ganz fest an ihn“, ist meine Bitte an sie. „Aber ich kann mich doch nicht mehr erinnern“, antwortet sie mir mit leicht verzweifelten Worten. „Egal“, sage ich, „denk ganz einfach an ihn“. Ich nehme das Foto mit der Bildfläche nach unten in meine linke Hand. Damit es auch wirklich richtigen Kontakt mit meiner Handfläche hat, rolle ich es behutsam etwas zusammen. Dann schließe auch ich meine Augen. Der Schreibblock und der Kugelschreiber liegen bereit – im Raum ist es ganz still. Ich atme einige Male tief durch. Dann gehe ich auf die mentale Suche nach einem Vater, der 1944 in Bologna/Italien sein Leben im Krieg verlor. Gerlinde sitzt ganz ruhig auf ihrem Platz. Es vergeht einige Zeit – ich weiß nicht wie viel … Das, was ich weiß ist, dass Gerlindes Vater plötzlich neben ihr steht und sie voll Liebe ansieht. Da erkenne ich, dass die Seele dieses Mannes aller Wahrscheinlichkeit nach stets in der Nähe seiner Tochter war. Er ist so präsent, beinahe zum Greifen nah! Gerlindes Züge sind entspannt, ich weiß nicht, ob sie ihren Vater spürt – ob sie seine Nähe wahrnimmt. Ihre Nervosität ist wie weggeflogen. Irgendetwas hat sie verändert, ich weiß nicht was, jedoch ich fühle es ganz deutlich. Nun beginne ich zu schreiben. Ich schreibe einen Brief an Gerlinde. Ihr Vater diktiert mir die Worte. Es sind nur ein paar kurze Sätze, jedoch eine wichtige Information für Gerlinde. Sie sitzt immer noch ganz ruhig auf ihrem Platz. Ich schaue sie an und frage sie, ob sie bereit ist, die Worte ihres Vaters zu hören. Ich will ihr den Brief vorlesen. Da ich selbst nie genau weiß, was ich schreibe, muss ich mich über den Inhalt des Schreibens selbst informieren, denn es ist wichtig, die geschriebenen Worte richtig zu betonen. Gerlinde muss sich nun selbst ein Bild ihres Vaters zurechtlegen. Der Vater teilt seiner Tochter Folgendes mit: Franz K. – gefallen 19.. in B./Italien – Tochter Gerlinde Hallo mein Kind! Danke, dass du dich mit mir in Verbindung setzt – es tut gut, dass man nicht vergessen ist. Mein Tod war sehr grausam und unnötig. Krieg ist immer eine verlorene Sache. Es ist so traurig, dass ich nie für dich sorgen konnte, dass ich

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