Ich bitte sie jedoch, noch ein wenig damit zu warten. Aus meiner Erfahrung heraus weiß ich, dass die meisten Fragen schon in den Briefen beantwortet sind, noch ehe sie gestellt worden sind. Und sollte es doch noch offene Fragen geben, ist immer noch genügend Zeit vorhanden. Gerlinde ist einverstanden – wenn auch ungeduldig – und gibt mir das Foto ihres Vaters. Ich lache sie an und sage ihr, dass ich es nicht brauche, da ihr Vater ohnehin schon hinter ihr steht. „Ist er mit mir mitgekommen?“ fragt sie mit erstauntem Blick. „Ja, ist er, denn er ist ja schon da. Er steht hinter dir, versuch ihn zu spüren. Leg deine Hand auf die rechte Schulter und denke fest an ihn. Vielleicht wird es etwas kälter, das kann leicht geschehen. Verstorbene fühlen sich oft kühl an! – Spürst du etwas?“ Ich warte in Ruhe ab. Gerlinde spürt jedoch nur angenehme Wärme. „Das ist die Liebe zu dir, die du fühlst. Sag Hallo zu deinem Vater, er freut sich sichtlich über das Geschehen: Gerlindes „Hallo“ klingt fest und sicher, sie ist in Gedanken ganz bei ihrem Vater. Ich schließe wieder meine Augen, konzentriere mich auf die Situation und schreibe auf, was mir Gerlindes Vater zu sagen hat: Hallo mein Kind, meine Tochter Linde! Danke, dass du dich für mich sorgst, ich spüre deine Einsamkeit, aber es ist nicht möglich, dir Hilfe zu geben. Ich habe euch alle im Stich gelassen, aber ich habe das nie gewollt. Der Krieg hat sich zwischen uns gestellt und ich bin eines seiner Opfer – das weißt du. Ich habe deine Mutter gerne gehabt, aber auch die Zeit war zu kurz. Es war nur eine kurze Episode, aber du warst der Grund, eine Familie zu gründen. Dich wollte ich für mich haben, ich wollte immer ein Kind. Das erste Kind konnte ich nicht wie ein Vater betreuen, es war eine „JugendDummheit“, aber ich habe es später sehr bereut. Diesen Sohn habe ich zwar irgendwann einmal sehen dürfen, aber das war schon alles. Die Zeit damals war nicht schön und auch nicht gut, du musst das verstehen. Und sie haben uns in den Kampf gezwungen, da gab es kein Entrinnen. Es war schlimm, sehr schlimm, weil mein Leben zerrissen wurde, deines auch. Ich hätte dich gerne ins Leben begleitet – ich durfte es nicht. Und ich weiß, ich habe dir das ganze Leben hindurch gefehlt. Es tut mir im Herzen weh, aber ich weiß, dass es ein Wiedersehen gibt. Dieses andere Kind, dieser Sohn, ich weiß noch seinen Namen: Karl. Er ist noch auf der Erde, das weiß ich auch, aber ich habe kein Recht, ihn zu sehen, auch von hier aus nicht. Da steht der Hass zwischen uns und das ist wie eine unüberwindbare Mauer.
RkJQdWJsaXNoZXIy MjI1MzY3