Vati Verzweifelt sitzt Gerlinde bei mir. Wieder einmal ist die Ursache für ihre seelische Situation der immer schlechter werdende körperliche Zustand ihrer gebrechlichen Mutter. Sie erzählt mir all das, was ich schon einige Male von ihr erfahren habe. Aber jedes Mal kommt mindestens noch ein neuerliches Problem dazu. Geduldig höre ich ihr zu. Ich weiß, dass es keinen Sinn ergibt, wenn ich ihr jetzt „Ratschläge“ erteile, dass es für derartige Situationen keiner Ratschläge von außen bedarf. Gerlindes Mutter ist zwar körperlich hinfällig und auf Fremdhilfe angewiesen, jedoch geistig ist sie noch ziemlich aktiv. Das bedeutet, sie lehnt jegliche Unterstützung durch Fremde vehement und barsch ab. Wenn sie Hilfe annehmen wird, dann nur und ausschließlich von der Tochter. Diese jedoch hat auch noch eigene familiäre Verpflichtungen. Sie ist für die Mutter da, aber eben nicht rund um die Uhr. Der Starrsinn der Mutter prallt auf die Meinung der Tochter – eine grausame Situation, in der die Mutter die Tochter in eine neuerliche Art von „Opferrolle“ zwingen will. Wie gesagt, ich weiß, dass ich nichts dazu tun kann. Weder im Sinne der Mutter noch als Hilfe für die Tochter. Gerlinde hört auf zu reden. Mit freudlosem Blick bittet sie mich, ihren Vater um Stellungnahme zu bitten. Sie klammert sich jetzt an eine Botschaft, die ihr „die Lösung des Problems“ bringen soll. Natürlich werde ich versuchen, aus den Worten des Vaters Antworten zu hören, große Hoffnung habe ich allerdings nicht. Aus meinen Erfahrungen weiß ich, dass sich Verstorbene nicht in das Leben der Hinterbliebenen einmischen dürfen. „Auch Väter nicht“, denke ich mir im Stillen und beginne zu schreiben: Hallo, meine kleine Linde! Ich würde dich gerne in meine Arme nehmen und dich damit trösten und dir zur Seite stehen – aber du weißt, ich kann das von hier aus nicht tun. Meine Welt hat nur sehr eingeschränkten Kontakt mit der Welt der Lebenden, und das ist auch gut so. Es sind sowieso viel zu viele Horrorgeschichten erfunden worden. Und keiner von uns darf die Lebenden „erschrecken“. Auf meiner Ebene ist es selbstverständlich, dass Gefühle übermittelt werden, mehr darf es eben nicht sein.
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