Ich weiß, dass du immer und immer wieder an mich denkst und dir vorstellst, wie schön es wäre, wenn es mich noch gäbe und ich dir in deinem Leben als Vater zur Seite stehen könnte – das spüre ich und könnte es mir ebenso gut vorstellen. Aber du vergisst das Wichtigste: Ich wäre aller Wahrscheinlichkeit nicht mehr am Leben. Bedenke, wie alt ich zum heutigen Zeitpunkt wäre – ein uralter Greis ohne jegliche Selbstverantwortung oder ein ekelhafter alter Mann, verbissen, verbittert und verbohrt. Vielleicht sogar ein Abbild deiner Mutter. Du weißt ja, die meisten alten Menschen sind durch ihre Vergangenheiten ihren durchlebten Jahren gegenüber traurig, enttäuscht und verbittert. Bei dir – in deiner Generation ist schon vieles anders. Es war sicher nicht um vieles leichter, aber es war ohne diesen schmerzlichen Verlust durch die vielen Kriegsjahre. Also, wenn es mich noch gäbe, wäre ich kein Sonnenschein in deinem Leben, eher eine „Mondfinsternis“. Ich kann dir nur von hier aus Mut machen, die Situation mit deiner Mutter in Ruhe zu ertragen. Du wirst sehen, es wird sich alles lösen, so oder so. Sie ist nicht mehr ansprechbar, deshalb darfst du die Worte von ihr nicht so ernst nehmen. Sie war immer sehr dominant, das macht sich jetzt ganz unangenehm bemerkbar. Aber sie war es auch als junger Mensch dir gegenüber, die Situation hat sich lediglich verhärtet. Du führst zurzeit einen Zwei-Fronten-Krieg. Halt die Ohren steif und beiß die Zähne zusammen und – lass dir nichts gefallen, nicht von ihr und nichts von der zweiten Front. Ich denke an dich, ich hab dich lieb mein Mädel! Vati Meine Gedanken waren richtig. Der Vater hat all das gesagt, was die Tochter gegenwärtig bedenken muss. Das und noch einiges mehr. Der Satz des „ZweiFronten-Krieges“ deutet darauf hin, dass die Situation weder mit der Mutter, noch ihre private Lage geklärt ist. Ob Gerlinde alles verstanden hat, ob sie hinter die Worte „gehört“ hat, kann ich nicht beurteilen. Aber ich rede nicht über mein Wissen. Sie soll die Zeit der „Waffenruhe“ genießen und sich die Lebensfreude nicht nehmen lassen. Zwei Fronten bedeuten, dass eine Kriegshandlung ansteht. Und wie ich persönlich die Situation ihrer Mutter einschätze, bricht ein neuerlicher Krieg aus an dieser Front. Es ist so, weil es immer so ist …, waren das nicht die Worte ihres Vaters aus einem der vergangenen Briefe?
RkJQdWJsaXNoZXIy MjI1MzY3