Zeilen aus dem Jenseits

Ich habe kein gutes Gefühl, wenn ich an Gerlinde denke. Ich denke nämlich öfter an sie und an die Situation mit ihrer Mutter. Da läuft die übliche Geschichte eines großen Machtkampfes um die Willensstärke einer Mutter und die der Tochter. Es geht um die gebrechliche, von Krankheit bereits gezeichnete alte Frau, die sich verzweifelt an den letzten Rest ihres Lebens „klammert“. Die gnadenlose Angst vor dem Sterben hat und denkt, dass das alles nicht passieren würde, ja wenn…was denn nun. Ja, wenn sie ihr altes Leben weiterführen würde. Würde sie gerne, kann sie aber nicht. Die Pflege rund um die Uhr ist aus finanziellen Gründen nicht möglich. Die Teilzeitpflege beginnt die Mutter wieder zu boykottieren. Soziale Pflegedienste lehnt sie von vornherein ab und die Hilfeleistungen durch private Personen werden immer spärlicher. Gerlindes Mutter versteht es, alle hilfreichen Dienste durch ihre starre Sturheit und ihr großteils „ekelhaftes“ Verhalten abzustellen. Die Menschen in ihrem Umfeld kommen mit ihrer unfreundlichen, ja manchmal sogar boshaften Art nicht mehr zurecht. Gerlindes Mutter leidet bereits an einer Alters-Demenz, die derartige Formen annimmt. Es hilft Gerlinde nur wenig, dass der Hausarzt die Situation immer wieder erläutert. Was sie wirklich braucht, ist Hilfe für die Mutter. Sie selbst tut, was sie kann, mehr geht einfach nicht. Doch all das ist für die pflegebedürftige Mutter zu wenig. Als die Situation zu eskalieren droht, wird ein Bett im Pflegeheim frei und Gerlinde ist glücklich. Ihre Mutter hat ja bereits die Einwilligung gegeben, einer Umsiedlung steht nichts mehr im Wege. Gerlinde teilt mir diesen glücklichen Umstand natürlich sofort mit. Sie weiß, wie sehr mich ihre gegenwärtige Lebenssituation interessiert. Ich freue mich mit ihr und atme ebenso erleichtert auf. Aber so ganz einfach ist die Situation doch nicht für Gerlinde zu handhaben. Sie hat auf einmal Gewissensbisse, weil die Mutter ins Pflegeheim „MUSS“. Mit einem Mal steht für sie fest, dass sie „versagt“ hat, weil sie die Mutter „nicht pflegen kann“. Es ist ja ihre Mutter, die da „abgeschoben“ wird. Dass es da auch noch einen Bruder, einen Sohn der Mutter gibt, hat sie ganz beiseitegeschoben. Er hat ihr „großzügig“ die Regelung der Situation „überlassen“. Gerlinde ist im Prinzip ganz auf sich allein gestellt. Wieder einmal sitzt sie vor mir, erzählt, erzählt und erzählt – spricht sich alles vom Herzen. Vorsichtig erwähne ich den Bruder, zeige ihr auf, dass ja auch er „etwas tun hätte können“. Gerlinde wird ruhiger. Ihr Blick verrät mir, dass sie einen großen Zorn auf ihren Bruder hegt. Doch er ist ja der „Kleine“, das muss

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