Kapitel 7: Christus sein Leben und sein Werk

- 34 - Nun verlangte er von derselben Gerechtigkeit Gottes, die ihm einst das unbeschränkte Recht über die gefallenen Geister eingeräumt hatte, für diesen Entscheidungskampf vollständige Neutralität von seiten Gottes. Gott sollte seine Hand von Jesus wegziehen und ihm auch keine menschliche Hilfe gewähren, andererseits aber der Hölle in allem freie Hand lassen. Würde Gott dieser Forderung nachgeben, so hoffte Luzifer, bei Anspannung aller seiner Kräfte diesen Jesus von Nazareth im letzten Augenblick doch noch mürbe machen und zur Verzweiflung treiben zu können. Gott erfüllte das Verlangen Satans mit der einzigen Ausnahme, daß er sich eine Stärkung der rein körperlichen Lebenskraft Jesu vorbehielt. Denn ohne diese Stärkung wäre Christus schon im Garten Gethsemane gestorben, und sein Leidensschicksal hätte sich nicht vollenden können. Alles seelische und körperliche Leid der Erde sollte nach dem Verlangen Luzifers auf wenige Stunden zusammengedrängt über dem Haupte seines Gegners zusammenschlagen und gleichzeitig die Hölle mit ihrer ganzen Macht auf ihn und seine Getreuen eindringen dürfen. So sollte dem Alleinstehenden, vom eigenen Jünger Verratenen, von den übrigen im Stich Gelassenen und ohne Hilfe Gottes der Hölle Preisgegebenen das Ende eines Judas bereitet werden. Schon jetzt, als Jesus nach dem Weggang des Judas B r o t u n d W e i n a l s S i n n b i l d s e i n e s S t e r b e n s den Aposteln darreichte und die Abschiedsworte an sie richtete, da blutete sein Herz aus tausend Wunden. Er war Mensch wie ihr und hatte auch in dieser und den folgenden Stunden vor anderen Menschen nichts voraus. Im Gegenteil, ihm fehlte überdies noch alles das, was sonst den Menschen in ihren Leidensstunden als Quelle des Trostes und der inneren Aufrichtung zu dienen pflegt. Nun geht er in die dunkle Nacht hinaus zum G a r t e n G e t h s e m a n e . Die Nacht ist keines Menschen Freund, vor allem keines Leidgequälten. Die Jünger, an denen schon die bösen Geistermächte am Arbeiten sind, gehen in banger Erwartung der Dinge, die da kommen sollen, schweigend neben ihm her. Auch er schweigt unter dem Drucke tiefster Seelenqual. Im Garten an der einsamen Stelle, die er sich für sein Gebet um Stärke auserwählt, wartet schon Luzifer mit seinen stärksten Höllenmächten, um den Kommenden mit vereinten Kräften seelisch niederzuringen. Jetzt ist ja die Stunde, die Gott dem Fürsten der Finsternis zugebilligt. Menschliche Worte vermögen das nicht wiederzugeben, was die Hölle in dieser einen Stunde an Schrecknissen über ihr Opfer ausgegossen hat. Wie einst derselbe Luzifer bei der Versuchung in der Wüste diesem Menschensohn alle Reiche der Welt in ihrer Herrlichkeit zeigte, um ihn damit zum Abfall zu verlocken, so führt er ihm jetzt zu demselben Zwecke das Furchtbarste und Häßlichste vor Augen, das es in dieser Menschheit gibt. Er läßt die Gott lästernde und dem Bösen verfallene Menschheit in allen Einzelbildern des Unglaubens und Lasters an seinen Augen vorüberziehen. Bild folgt auf Bild... grauenhaft! Dann zeigt er Jesus die angeblichen 'Früchte' seiner vieljährigen Tätigkeit unter dem jüdischen Volke als dem Volke Gottes, zeigt hohnlachend auf seine Jünger, von denen der eine als Verräter mit einer Horde im Anzug ist, während die anderen nicht weit von ihm liegen und schlafen und in dieser qualvollen Stunde kein liebes Wort für ihren Meister finden und nicht eine Stunde mit ihm wachbleiben können. 'Und für eine solche Menschheit willst du zur Besiegelung deiner Lehre sterben?', hört er Luzifer höhnen. 'Für diese Menschheit, die deinen Vater verlästert und dich als einen Narren verhöhnen wird, wenn du dein Leben für solche Verbrecher hingibst. - Und wie wirst du sterben?' - Und nun drehte er den Leidensfilm vor dem hellsehenden Auge seines an allen Gliedern zitternden Opfers: Die Gefangennahme, die Flucht der Jünger, die Verleugnung des Petrus, das blutdürstige Geheul jenes Volkes, das ihm noch vor wenigen Tagen das Hosanna zugerufen, das Todesurteil, die Geißelung, die furchtbaren Mißhandlungen, die Dornenkrönung, den Kreuzweg, die Kreuzigung – alles in den schauerlichsten Bildern, nur um ihn zu einem seelischen Zusammenbruch und zur Verzweiflung zu bringen. Und gleichzeitig hämmerten die Geister der Trostlosigkeit und der Verzweiflung die entsetzlichsten Gedanken in den Geist dieses von allen Verlassenen.

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