Kapitel 7: Christus sein Leben und sein Werk

- 35 - Seine Pulse rasten, sein ganzer Leib erzitterte im höchsten Fieberschauer, das Herz drohte zu zerspringen. Todesangst befiel ihn, und mit dem Angstschweiß wurden auch Blutstropfen durch die Poren hindurchgepreßt und rannen zur Erde. Die Jünger schliefen, während sich das Furchtbare bei ihrem Meister abspielte. Die Bilder der Leidensgeschichte Jesu hat euere Bibel in wenigen Strichen gezeichnet, die euch das wirkliche Erleben dessen nicht nahebringt, was an seelischen und körperlichen Martern dem Erlöser bereitet worden ist. Auch sind manche der schlimmsten Qualen in eurer Bibel überhaupt nicht erwähnt. So sind die entsetzlichen Stunden mit Stillschweigen übergangen, die Jesus in den unterirdischen Kellern der Statthalterei hat zubringen müssen. In diese nassen, von den abscheulichsten Tieren wimmelnden dumpfen Verließe hatten die Soldaten Jesus nach seiner Geißelung, Dornenkrönung und Verhöhnung geschleppt, nachdem sie vorher die zahllosen tiefen Wunden des von den Geißelhieben zerfetzten Leibes voll Salz gestreut und ihm die Hände gebunden hatten, damit er sich nicht durch Entfernung des Salzes eine Linderung der unmenschlichen Qualen verschaffen konnte. Nie hat ein Mensch eine solche Marter zu erdulden gehabt, wie dieser menschgewordene Gottessohn. Die Hölle hat durch ihre irdischen Werkzeuge bei ihm das Äußerste versucht, weil sie ihn als den größten Gegner erkannte, der auf die Erde kommen konnte. Aber das, was sie ihm an leiblichen Schmerzen bereitete, kam dem nicht gleich, was er an seelischen Leiden zu tragen hatte. Und zwar lasteten die körperlichen und seelischen Qualen gleichzeitig auf ihm. Dazu fehlte ihm bis zum letzten Augenblick jeder menschliche Trost und, was noch schlimmer war, auch jede göttliche Hilfe. Gott zog seine stärkende Hand von ihm weg und überließ ihn hilflos den Mächten der Hölle. Der Schrei des am Kreuze mit dem Tode Ringenden: ' M e i n G o t t , m e i n G o t t , w a r u m h a s t d u m i c h v e r l a s s e n ? ' verrät die ganze Größe dessen, was er im Augenblick höchster irdischer Qual an tiefster innerer Verlassenheit zu erdulden hatte. • Satan sollte nicht sagen können, er habe diesen Menschen deshalb nicht zu besiegen vermocht, weil ihm von anderer Seite zu viel Hilfe zuteil geworden sei. Er sollte bekennen müssen, daß er einen sich selbst überlassenen Menschen, trotz der größten geistigen und leiblichen Folterqualen, die er ihm bereitete, nicht zum Abfall von Gott hatte bewegen können. Es ist unrichtig, wenn eure Bibel berichtet, daß unter dem Kreuze die Mutter Jesu mit Johannes gestanden habe. Auch dieser äußere Trost war ihm versagt. Von allen, die ihn am meisten liebten, war keiner bei der Kreuzigung anwesend. Sie hätten den Anblick nicht ertragen können. Oder wo wäre eine menschliche Mutter, die zusehen könnte, wie ihr Kind ans Kreuz genagelt wird. Und dazu soll nach eurer Annahme Maria unter dem Kreuze sogar gestanden haben. Wäre sie dort gewesen, so hätte sie sicherlich nicht gestanden, sondern wäre ohnmächtig zusammengebrochen. Darum ist es auch unrichtig, daß Jesus vom Kreuze herab zu seiner Mutter und zu Johannes die Worte gesprochen haben soll: ' Mu t t e r , s i e h e d e i n e n S o h n - S o h n , s i e h e d e i n e Mu t - t e r ! ' - Wohl hat er ähnliche Worte an seine Mutter und an Johannes gerichtet, als er nach dem von Pilatus verkündeten Todesurteil aus der Statthalterei heraustrat und seine Mutter und Johannes im tiefsten Seelenschmerz sich an ihn klammerten, bis die Soldaten sie wieder von ihm wegrissen. Zur Gerichtssitzung waren Mutter und Jünger gekommen. Die Mutter hatte immer noch auf einen günstigen Ausgang gehofft. Sie mußte immer wieder an das Opfer Abrahams denken, dessen Sohn Gott auch noch im letzten Augenblick, als schon das Schlachtmesser gezogen war, vor dem Tode bewahrte.

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