Der Einfluss der Trauer auf Verstorbene

- 10 - 8. Kinder holen ihre Mutter aus dem Jenseits zurück Bei dem folgenden Bericht hat man den Eindruck, als ob Kinder ihre sterbende Mutter mit Erfolg aus dem schon fast besiegelten Tode zurückgeholt haben. Der Bericht wurde 1911 von einem Autor namens Schrimpf veröffentlicht. Er lautet (15, S. 103): "Voriges Jahr - das heißt im Jahre 1910 - starb in Vorbruck eine 95jährige Frau namens André, geborene Vallentin. Noch zwei Tage vor ihrem Tode verrichtete sie ihre ganzen häuslichen Arbeiten, denn sie war noch sehr rührig und rüstig und erfreute sich einer vollkommen geistigen und körperlichen Frische. Trotzdem sah sie dem Tode mit Sehnsucht und Freude entgegen, und seit langen Jahren sprach sie ihren Verdruß darüber aus, daß sie noch immer hierbleiben müsse. Wenn man sie darüber befragte, erzählte sie gerne die Ursache. Sie war zweimal verheiratet. Als ihr erster Mann starb, zählte sie 28 Jahre und hatte zwei Kinder. Sie heiratete zum zweiten Mal. Dieser Ehe entsprossen vier Kinder. Alle sechs waren noch ziemlich klein, als sie auch den zweiten Mann verlor. Sie brachte sich und ihre Kinder damit durch, daß sie Brot und allerlei kleines Gebäck backte. Sie hatte auf dem Markt einen kleinen Stand, wo man sie stets mit einem Strickstrumpf in der Hand sitzen sah. So vergingen einige Jahre. Eines Tages im Herbst regnete es den ganzen Tag in Strömen. Sie fror an ihrem Stand erbärmlich, und als sie nach Hause kam, schüttelte sie das Fieber. Am nächsten Tag konnte sie nicht mehr aufstehen. Eine böse Lungenentzündung hatte sich entwickelt. Ihre zwei Ältesten mußten sich zum Stand setzen, und die vier Kleineren pflegten die kranke Mutter schlecht und recht, wie sie es eben verstanden. Hier und da sah wohl eine Nachbarin nach der Kranken, brachte ihr ein wenig Suppe usw., aber bei ihr sitzen bleiben und die Umschläge machen konnte keine, da die Nachbarsleute auch zumeist arm waren und selbst die Hände voll zu tun hatten. Den dritten Tag wurde ihr plötzlich schlecht. Die Kinder liefen um Hilfe, doch bis der Armenarzt kam, konnte er nunmehr den Tod der armen Frau André‚ konstatieren. Am nächsten Tag kam der Totenbeschauer und dann eine Frau, welche die Tote wusch und anzog. Als sie fort war, kletterten die kleineren vier Kinder auf das Bett der Mutter. Laut jammernd und weinend schüttelten und rüttelten sie die Tote hin und her, sich über sie werfend und sie immer wieder rufend. Nachdem sie die Mutter etwa zehn Minuten auf diese Art bearbeitet hatten, hob ein schwerer Seufzer die Brust der Entschlafenen, dann noch einer - und sie hob mühsam die Augenlider. Kaum hatten die Kinder dies bemerkt, als sie sich mit lautem Jubel von neuem auf sie warfen, sie in die Höhe zerrten, und es dauerte keine fünf Minuten, so hatten sie ihre Mutter wieder lebend und bei vollem Bewußtsein. Das ganze Städtchen lief über das Wunder zusammen, man überhäufte die Wiedererstandene mit Lebensmitteln und Geld, und nach zwei bis drei Wochen saß sie wieder munter und tüchtig hinter ihrem Stand. So lebte sie nach diesem Vorfall noch 58 Jahre lang. Nie hatte sie mehr eine Krankheit heimgesucht. Alle ihre Kinder sind ihr im Tode vorangegangen, und sie war nicht imstande, nur eines von denen dem Tode abzuringen, die sie einmal von dort zurückgerufen hatten, von wo es angeblich keine Wiederkehr gibt. Über 30 Stunden waren es gewesen, die sie als Tote verbracht hatte. Sie erzählte darüber folgendes: 'Als mich plötzlich ein arges Unwohlsein überkam, fühlte ich, wie mir die Sinne schwanden. Dann fühlte ich eine starke, schaukelnde Bewegung, als ob sich das Bett unter mir hob und senkte. Dann war es mir, als ob ich von irgendeiner Höhe hinabstürzte, tiefer und immer tiefer. Ein schreckliches Angstgefühl und furchtbare Beklemmung war alles, was ich wußte. Plötzlich schien es mir, als ob ich Boden unter den Füßen bekommen hätte, und ich stand auf einer Heide. Weit und breit war nur eine öde, steppenartige Gegend sichtbar. Vor mir ein holperiger, ausgetretener Fußweg schien in diese Endlosigkeit hineinzuführen. Eine eigentümliche Dämmerung vervollständigte noch die Trostlosigkeit dieser Gegend. Es erschien alles wie an einem naßkalten Herbstabend, grau und unfreundlich.

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