Psychowissenschaftliche Grenzgebiete

 
Titel: Das Jenseits in uns
Aus: "Psychologie heute", Heft 6 / 1993, S. 64 - 69
Verfasser:

Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers Dr. med. Michael Schröter-Kunhardt.

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Kontakt: Michael Schröter-Kunhardt, Mühlenweg 30, 21224 Rosengarten. Telefon und Fax: 04105 / 869330,

Mobil: 0172 / 6249248, E-Mail: M.Schroeter-Kunhardt@gmx.de.

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Dr. med. Michael Schröter-Kunhardt, Jahrgang 1956, forscht besonders auf den Gebieten Hypnose, transkulturelle Psychiatrie sowie Schäden durch Okkultpraktiken. Er ist Facharzt für Psychiatrie und Leiter der deutschen Sektion der "International Association for Near-Death Studies" (IANDS).

 

 

1.0 Das Jenseits in uns

Menschen, die dem Tode nahe waren, berichten über beeindruckende Erlebnisse: Sie schreiten durch einen Tunnel, sehen ein helles Licht, Engel und Dämonen oder fühlen sich außerhalb ihres Körpers.

Ist die Todesnähe vielleicht nur ein Auslöser für eine Matrix religiösen Erlebens, die tief in uns angelegt ist? – Ein Holzarbeiter ohne religiöse Erziehung hatte versucht, sich in einem Schuppen aufzuhängen, nachdem er wegen alkoholisierten Fahrens sowohl Führerschein als auch seine Urlaubsersparnisse verloren hatte. Er erzählt:

Ich sprang vom Dach des Schuppens in meinem Hinterhof herunter. Glücklicherweise hatte ich den zerbrochenen Gartenstuhl vergessen, der neben dem Schuppen lag. Meine Füße prallten auf diesen Stuhl und stoppten meinen Fall, ansonsten wäre mein Rückgrat gebrochen. Ich hing in dem Seil und erstickte. Ich war außerhalb meines physischen Körpers. Ich sah meinen Körper im Seil hängen; es sah furchtbar aus. Ich konnte sehen und hören, aber irgendwie war es anders - schwer zu erklären. Um mich herum waren überall Dämonen; ich konnte sie hören, aber nicht sehen. Sie schnatterten wie schwarze Vögel. Es war, als wüßten sie, daß sie mich hatten, und daß sie die ganze Ewigkeit Zeit hätten, mich in die Hölle zu ziehen und zu quälen. Es würde die schlimmste Art von Hölle sein, hoffnungslos eingefangen zwischen zwei Welten, verloren und verwirrt die ganze Ewigkeit herumirrend.

Ich mußte zurück in meinen Körper. Oh mein Gott, ich brauchte Hilfe! Ich lief zum Haus, rannte durch die Tür, ohne sie zu öffnen und schrie nach meiner Frau, die mich aber nicht hören konnte; darum ging ich geradewegs in ihren Körper hinein. Ich konnte mit ihren Augen und Ohren sehen und hören. Dann stellte ich den Kontakt her, hörte sie sagen "Oh, mein Gott!" Sie griff nach einem Messer auf dem Küchenstuhl und rannte dorthin, wo ich hing, stieg auf einen alten Stuhl und schnitt mich vom Seil ab. Sie konnte keinen Puls finden; sie war Krankenschwester. Als das Notfallteam ankam, hatte mein Herz aufgehört zu schlagen; ich atmete auch nicht mehr. (1)

Nah-Todeserfahrungen wie diese sind in den letzten 15 Jahren häufiger geworden. Das mag mit einer verbesserten Reanimationstechnik der Notfall-Medizin zu tun haben, aber auch mit steigendem Interesse am Thema. Viele populärwissenschaftliche Bücher- und auch erfolgreiche Filme wie "Ghost" und "Flatliner" beschäftigen sich mit Sterben und Jenseits.

Im Rahmen der "International Association for Near-Death Studies" (IANDS) untersuchen seit 1977 auch renommierte Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen weltweit diese ungewöhnlichen Erfahrungen. Forschungsdirektor der amerikanischen IANDS ist der Psychiater Bruce Greyson, der auch das vierteljährlich erscheinende Journal of Near-Death Studies redigiert. In vielen Ländern der Erde gibt es inzwischen IANDS-Sektionen. In etwa 60 zumeist retrospektiven Studien und Fallsammlungen wurden bisher weltweit über 3.000 Fälle untersucht. Dabei stellte sich heraus, daß:

Verschiedene Indizien sprechen dafür, daß die Häufigkeit von Nah-Todeserfahrungen sogar noch unterschätzt wird. So fand man mit einem sensitiven Fragebogen bei 29 Prozent derjenigen, die in Todesnähe scheinbar nichts Ungewöhnliches erlebt hatten, doch Nah-Todeserfahrungen. Häufig schweigen die Betreffenden, weil sie eine Diskriminierung fürchten. In europäischen Kliniken und Hospizen wird nach solchen Erfahrungen auch kaum gefragt. Viele Menschen werden die traumähnlichen, dissoziativen Erlebnisse auch einfach vergessen oder wegen ihres negativen Inhalts verdrängen. Elemente solcher Erfahrungen und ähnlich kosmisch-mystische Erlebnisse können auch mit hohen Dosen halluzinogener Substanzen wie LSD hervorgerufen werden. Außerkörperlichkeitserlebnisse treten auch im Schlaf, in tiefer Meditation und unter Hypnose auf - oder aber bei extremem Streß, etwa sexuellem Mißbrauch, ferner bei Migräne oder epileptischen Anfällen. Dies spricht für eine universelle Anlage solcher Bewußtseinszustände.

Unfälle, lebensbedrohliche Erkrankungen, Zwischenfälle bei einer Operation und Geburtskomplikationen sind klassische Auslöser von Nah-Todeserfahrungen. Die Betreffenden sind dabei in keinem Fall biologisch und auch nicht immer klinisch tot - Herzschlag und Atmung müssen also nicht unbedingt aussetzen.

Grundsätzlich ereignen sich weniger als die Hälfte aller Nah-Todeserfahrungen in wirklicher Todesnähe. Häufig erwartet der Betreffende nur seinen Tod.

In echter Todesnähe scheinen diese Erlebnisse jedoch "vollständiger" zu sein.

In kompletter Form - viele Erlebnisse, beinhalten nur einige der folgenden Elemente - besteht ein Nah-Todeserlebnis in oft chronologischer Reihenfolge und in abnehmender Häufigkeit aus folgenden Sequenzen:

In den christlich orientierten Industrieländern dominieren diese durchweg positiven Nah-Todeserfahrungen.

Zumeist kommt es dabei nach einer Außerkörperlichkeits- und Tunnelphase zum Eintritt in eine dunkle, höllische Welt, wo Dämonen und andere finstere Figuren den Erlebenden verurteilen, bedrohen oder gar angreifen. Er sieht Bereiche voller haßerfüllter, sich gegenseitig schlagender oder gequälter Menschen, die ihren Süchten und schlechten Eigenschaften frönen. Auch kann es zum Eintritt in eine dunkel-kalte unendliche Leere kommen, die kein Entrinnen ermöglicht und die eigene Existenz bedroht. Schließlich können typisch positive Nah-Todeserlebnisse auch bedrohlich-ängstigend erlebt werden. All diese negativen Erfahrungen können aber auch in die genannten positiven Sequenzen übergehen.

 

 

2.0 Die Angst vor dem Tod schwindet

Das Auftreten negativer Sterbeerfahrungen scheint mit dem momentanen seelischen Zustand zusammenzuhängen. So findet man solche Erlebnisse gehäuft nach Selbstmordversuchen, wenngleich es dabei oft auch positive Erlebnisse gibt. Auch kann ein einzelner mehrere positive und negative Nah-Todeserfahrungen machen - abhängig von dem momentanen seelischen Zustand.

Insgesamt weisen nahezu alle modernen Nah-Todeserfahrungen die genannten Elemente auf, wenngleich die jeweilige Ausgestaltung - zum Beispiel des Tunnels oder der Landschaft - sehr unterschiedlich sein kann. Tatsächlich besteht ein fließender Übergang von ganz und gar individuellen Träumen über solche, die zunehmend Elemente der Nah-Todeserfahrung enthalten bis hin zu dieser selbst.

In mehreren kontrollierten Studien hat man nach einer solchen Erfahrung bei fast allen Menschen eine statistisch bedeutsame Abnahme der Angst vor dem Tod festgestellt. Diese Veränderung ließ sich eindeutig auf die Nah-Todeserfahrung zurückführen - besonders auf das Außerkörperlichkeitserlebnis und nicht nur auf die Konfrontation mit dem Tod. Parallel kommt es zu einer statistisch signifikanten Zunahme des Glaubens an ein Leben nach dem Tod, der oft zur absoluten Gewißheit wird. Die Betreffenden sind zuversichtlicher, neurotische Ängste schwinden. Ähnliche Veränderungen werden auch bei Menschen mit spontanen Außerkörperlichkeitserlebnissen beobachtet. Viele Menschen sind nach einem Sterbeerlebnis von der Existenz Gottes überzeugt und geben religiösen und ethischen Werten in ihrem Leben Vorrang vor allem anderen. Sie empfinden eine größere Liebe und Verbundenheit mit allen und allem, mehr Toleranz und Mitgefühl mit den Menschen, aber auch eine höhere Wertschätzung der eigenen Person. Sie wenden sich häufig von materialistischen, äußerlichen Werten ab und nehmen sozial-karitative Aufgaben an. Sie haben Lebensfreude und Selbstvertrauen, fühlen sich aber auch verantwortlicher. Sie suchen Selbsterkenntnis, Lebenssinn und Weisheit, fühlen sich insgesamt "lebendiger" und wissen um die Kostbarkeit der noch zur Verfügung stehenden Zeit. Nah-Todeserlebnisse wirken auf Menschen wie ein "Kulturschock". In wenigen Minuten werden alle bisher gültigen Werte und Ansichten gründlich erschüttert. Infolgedessen sind Konflikte mit der Umwelt, in der die alten Werte fortbestehen, oft unvermeidbar. Berufswechsel, Spannungen in Freundschaften und Beziehungen bis hin zur Scheidung sind nichts Ungwöhnliches. Seltener werden auch psychische Störungen wie Depressionen, Todesangst oder Hilflosigkeit beobachtet.

Wie sich negative Nah-Todeserfahrungen auswirken, ist noch nicht ausreichend untersucht worden.

Sicher ist jedoch, daß auch sie völlig neue Perspektiven setzen und positive wie negative Folgen haben können.

Auch solche Erfahrungen wirken suizidverhütend.

Sterbeerfahrungen wie die geschilderten mit ganz ähnlichen Persönlichkeitsveränderungen werden erstaunlicherweise aus den verschiedensten Kulturen aller Zeiten berichtet. So findet man die erste positive Nah-Todeserfahrung mit Tunnel, Licht und Paradies-Landschaft, aber auch die erste Höllenvision im 5000 Jahre alten sumerischen Gilgamesch-Epos. Neutestamentliche Parallelen sind unter anderem die zur Konversion des strenggläubigen Juden Saulus führende Lichtesvision (Apg 9), der später auch noch ein Außerkörperlichkeitserlebnis mit Paradies-Vision beschrieb (2 Kor 12).

Auch im Mittelalter waren NahTodeserfahrungen nicht selten.

Die erste Fallsammlung stellte Papst Gregor im 5. Jahrhundert zusammen. Sie enthält praktisch alle Elemente der modernen Berichte; nur die Ausgestaltung variiert: Es wurden etwas häufiger negativ-dämonische Visionen berichtet, die sich dann aber zumeist in positive verwandelten; man begegnete häufiger Engeln und Heiligen als eigenen Verwandten; die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit im Lebensfilm wurde durch eine Bewährungsprobe, eine Gerichtsszenerie oder ein Lebensbuch ersetzt, und die Rückkehr in den Körper wird meist befohlen. Auch die Auswirkungen ähnelten denen der heutigen Sterbeerfahrungen, entsprachen jedoch der vorherrschenden Mentalität und Religion: Man lebte strenger nach den damaligen Heilsvorschriften der katholischen Kirche, zu deren Unterstützung man die Erlebnisse dann auch verkündete.

 

 

3.0 Religionen gründen auf Sterbeerleben

Auch bei den heutigen Nah-Todeserfahrungen der Kaliai in Papua Neu-Guinea und denen der Hindus kommt es - eher ohne die ekstatischen (Licht-)Qualitäten christlicher Erlebnisse - nach dem Eintritt in eine "jenseitige" Landschaft zur Begegnung mit Verstorbenen und einer ethischen Bewertung des eigenen Lebens. Ihre Ausgestaltung und Auswirkungen entsprechen ebenfalls der jeweiligen Religion und Mentalität und ähneln dabei in ihrer weniger selbstbestimmten Art eher den Sterbeerfahrungen des Mittelalters.

Im Reinen-Land-Buddhismus, der größten japanischen (und chinesischen) buddhistischen Schule, dominiert neben Paradies- und Höllenvisionen die Lichterfahrung, die hier zum Amidha-Buddha wird, was sich möglicherweise auf ihre erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Christentum zurückführen läßt. Der Reines-Land-Buddhismus, dessen Name von den Paradies-Visionen stammt, beruht praktisch auf Sterbeerfahrungen! Diese wirken also nicht nur religionstragend, sondern zuweilen sogar religionsstiftend. Damit bestätigt sich die Vermutung der britischen Psychiater Roberts und Owen:

"Daß manche und sogar viele der volkstümlichen Jenseitsbilder ihren Ursprung in Nah-Todeserfahrungen haben könnten, und daß kulturelle Erwartungen nicht nur die Bilder der Nah-Todeserfahrungen determinieren, sondern selbst in ihnen ihren Ursprung haben" (2).

Wie lassen sich nun diese in aller Welt so ähnlich strukturierten und interpretierten Erfahrungen erklären? Dazu gilt es festzuhalten: Die Behauptung, daß die Nah-Todeserlebnisse Wahrnehmungen einer anderen Realität und keine Halluzinationen seien, ist nicht widerlegbar. Welche Wahrnehmungen "real" und welche "halluziniert" sind, können wir nicht mit Sicherheit feststellen. Unsere Wirklichkeit ist im psychiatrischen Sinne immer eine Illusion", da es sich um eine Interpretation des Gehirns handelt.

In mancherlei Hinsicht ähneln Nah-Todeserfahrungen Träumen. So kommt es auch in Träumen zuweilen zu Außerkörperlichkeitserfahrungen mit den typischen Fall-, Flug- und Schwebeempfindungen. In Klarträumen schließlich, in denen der Träumer sich des Träumens bewußt ist, wird die Welt ähnlich "real" und lebendig wahrgenommen wie bei Nah-Todeserlebnissen. Jedoch gibt es eine ganze Reihe phänomenologischer und physiologischer Unterschiede zwischen den beiden Phänomenen.

Der luzide Charakter von Nah-Todeserfahrungen und manchen hellsichtigen Träumen, also die Klarheit und Lebendigkeit der erlebten Welt, ist meiner Ansicht nach ein Hinweis auf die reale Existenz des Erlebten. Auch in jenen Elementen der Nah-Todeserfahrung, die eher traumhaft-halluzinativ erscheinen, vermute ich Elemente einer anderen Existenz, die sich aber dem Individuum in traumhaft veränderbarer Gestalt zeigen: Vielleicht kleidet das Unbewußte außersinnlich erfaßte Erfahrungen in individuelle Bilder und Inhalte. Das würde die je nach Religion und Kultur unterschiedliche Ausgestaltung der im Kern identischen Erfahrungen erklären. Nah-Todeserfahrungen sind meiner Ansicht nach deutliche indirekte Hinweise auf ein Leben nach dem Tod.

Sicher ist jedoch, daß Nah-Todeserlebnisse bei - wenn auch anders als sonst - funktionierendem Gehirn stattfinden. Diese Erfahrungen können nicht allein auf Sauerstoff-Mangel und Kohlendioxid-Überschuß im Gehirn zurückgeführt werden, denn sie treten auch bei normalem Sauerstoff-Gehalt auf. Körpereigene Opiate scheinen bei den Erlebnissen eine Rolle zu spielen, ebenso die Botenstoffe Serotonin, Dopamin und GABA. Alle diese Stoffe spielen aber auch bei anderen psychischen Funktionen eine Rolle, so daß sie nichts Spezifisches über die Neurophysiologie von Nah-Todeserfah-rungen aussagen.

 

 

4.0 Glückseligkeit im rechten Temporallappen des Großhirns

Wichtiger ist vermutlich die Beteiligung körpereigener Halluzinogene, denn synthetisch hergestellte Halluzinogene wie LSD können Elemente von Nah-Todeserfahrungen hervorrufen. So hat man im Gehirn des Menschen kürzlich einen Cannabis-Rezeptor und den dazugehörigen Botenstoff entdeckt. Dessen Name Anandamid bedeutet bezeichnenderweise soviel wie "innere Glückseligkeit".

Welche Hirnareale bei Nah-Todeserlebnissen beteiligt sind, läßt sich ebenfalls nicht genau festlegen. Vermutlich spielt das temporo-limbische System eine wichtige Rolle, welches das Groß-, Zwischen- und Mittelhirn durchzieht. Dieses System ist jedoch auch an anderen integrativen Leistungen wie Gedächtnis, Lernen, Sprache und Selbstgefühl beteiligt. Stimuliert man den rechten Temporallappen des Großhirns elektrisch, so können manchmal Elemente der Nah-Todeserfahrung wie Lebensfilm-Bruchstücke, Zeitveränderungen, Glücksgefühle oder Außerkörperlichkeitserlebnisse beobachtet werden.

Wie unter anderem EEG-Messungen vermuten lassen, scheint auch der frontale Kortex bei den Erlebnissen beteiligt zu sein, also jener Großhirn-Bereich, der für das Schlußfolgern, Bewerten und Verknüpfen von Erfahrungen verantwortlich gemacht wird. Jedoch sind dabei offenbar - wie auch bei anderen veränderten Bewußtseinszuständen - nur ganz bestimmte Areale des Kortex aktiviert. Andere Regionen, die im normalen Wachbewußtsein aktiv sind, scheinen hingegen gehemmt zu sein.

Sind Nah-Todeserfahrungen demnach "nur" ein bestimmter Zustand des Gehirns ohne Gegenstück in der "Wirklichkeit", also eben doch Halluzinationen? Wenn man aus den spärlichen Kenntnissen über die Neurophysiologie solcher Bewußtseinszustände diesen Schluß ziehen wollte, dann müßte man die ganze Welt zur Halluzination erklären. Denn für die Physik existieren weder Farben noch Formen oder feste Gegenstände. Diese gibt es nur als Interpretationen von Materieteilchen und Energiefeldern in unseren Gehirnen so wie es Haß, Schmerzen, Liebe oder eben Nah-Todeserfahrungen "nur" in unseren Gehirnen gibt. Die Neurophysiologie kann diese Erfahrungen also nicht reduzierend hinwegerklären. Wir wissen gar nicht, welche dieser beiden Seiten von Wirklichkeit - auf der einen Seite das Erleben, auf der anderen die Hirnvorgänge - primär ist und die andere erklärt. Vielleicht erklärt keine der beiden Seiten die andere und beide gehören untrennbar zusammen.

Insgesamt scheinen bei der NahTodeserfahrung ganz bestimmte Hirn-Strukturen selektiv erregt zu werden. Dieses Erfahrungsmuster scheint im Gehirn biologisch angelegt zu sein, so daß es "bei Bedarf" aktiviert werden kann. Der Psychiater Stanislav Grof konnte beispielsweise durch Halluzinogene Elemente die Nah-Todeserfahrung bei unheilbar Krebskranken auslösen und ihnen so (religiöse) Zuversicht geben und die Angst vor dem Tod nehmen, ihre Stimmung aufhellen und Schmerzen reduzieren.

Dementsprechend gelten bewußtseinsverändernde Techniken und Substanzen in den meisten Kulturen als Zugang zu religiösen (Jenseits-)Erfahrungen. Die Nah-Todeserfahrung stellt deren Prototyp dar und zeigt sogar deren biologische Basis auf. Alle religiösen Erfahrungen und die Religiosität des Menschen überhaupt scheinen auf einer solchen neurophysiologischen Grundstruktur zu beruhen. Nah-Todeserlebnisse sind deshalb so heilsam, weil sie diese innere Religiosität freilegen, die bei uns allgemein verdrängt wird.

Marx (Religion als Opium für das Volk), Freud (Religion als Neurose) und Drewermann (Religion muß an die gängige Rationalität der Psychoanalyse angepaßt werden) haben sich meiner Meinung nach geirrt. Religiöses Erleben beruht vielmehr auf einer biologisch angelegten Matrix, die jenseits der psychoanalytisch erreichbaren Schichten im Unterbewußtsein liegt und in ihrer heilsamen Potenz jede Psychoanalyse übertreffen kann. Die gängige Rationalität, an die sich viele Theologen krampfhaft anzupassen versuchen, erweist sich demnach als Reduktion der Wirklichkeit.

 

 

5.0 Literatur
 
 

  1. B. Greyson / N. E. Bush: Distressing Near-Death Experiences. Psychiatry 1992, 55, 95-110
  2. Journal of Near-Death-Studies Human Sciences Press, Inc., New York, N. Y. 10013 - 1578
  3. G. Roberts / J. Owen: The Near-Death Experience. British Journal of Psychiatry 1988, 153, 607 - 6174
  4. K. Osis / E. Haraldsson: Der Tod-ein neuer Anfang. Freiburg i. Br.: Bauer Verlag 1978
  5. H. Gieseke / R. v. Quekelberghe: Near-Death Experiences und ihre biographischen Nachwirkungen. Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie 1989, 31, 258 - 273
  6. E. Mattiesen: Das persönliche Überleben des Todes. Berlin: Verlag de Gruyter 1987
  7. K. Ring: Den Tod erfahren - das Leben gewinnen. Bergisch-Gladbach: Lübbe Verlag 1990
  8. P. Dinzelbacher: An der Schwelle zum Jenseits: Sterbevisionen im interkulturellen Vergleich. Freiburg i. Br.: Herder 1989
  9. Dr. M. B. Sabom: Erinnerung an den Tod: Eine medizinische Untersuchung. Berlin: Goldmann-Verlag 1986
  10. M. Morse / P. Perry: Zum Licht: Was wir von Kindern lernen können, die dem Tod nahe waren. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins Verlag 1992

 

Weiterführende Literatur beim Verfasser